Musikbild: Beckmanns Triptychon Blindekuh

Noch eine Woche Beckmann in Leipzig. Heute vormittag war Podiums-Diskussion im Museum der bildenden Künste, ob die Zuordnung konkreter Personen in Max Beckmanns Bildern sinnvoll sei, insbesondere über die Identifizierung von niederländischen Widerstandskämpfern. Für das Thema der hier in Fortsetzungen eingestellten Erörterung über Beckmann 2011/12 (Teil 1, Teil 2, Teil 3, Teil 4, Teil 5, Teil 6) gab es keine neuen Erkenntnisse. Weil ich gestern aber noch einmal im Frankfurter Katalog las, werde ich doch noch einen Epilog folgen lassen: wenn programmatische Werke Beckmanns trivialisiert werden, muss widersprochen werden (Teil 7). Hier zunächst, weil die Diskussion heute in Leipzig zentral das Triptychon „Blindekuh“ betraf, der – leicht veränderte – Text über dieses „Musikbild“, in vorheriger Fassung erschienen im letzten Gewandhausmagazin 2011.

Im viereinhalb Meter breiten Triptychon Blindekuh von Max Beckmann begleiten zwei vertikal gestaffelte Hochformate ein offenber dissonantes Konzert im Mittelbild. Im Verlaufe seiner Entstehtung zwischen Frühling 1944 und Ende Oktober 1945 trug das Triptychon verschiedene Namen: Götterkonzert, Konzert, Cabaret und Bar, manchmal Grand Cabaret oder Grand Bar und noch anders.

Die da in der Mitte musizieren, hat Beckmann im Verlauf der Arbeit als Götter bezeichnet. Für ihn war es sein „hervorragendstes Werk“, was er zu  anderen Bildern nicht notiert hat. Wie bei so vielen „Weltbildern“ von Beckmann ist nur eine inhaltliche Annäherung sinnvoll. Die Interpretation kann keine Gewissheiten liefern. Der Grund liegt in einer Kunst der Verschleierung, in einem raunenden „polysemantischen“ Gebaren des Malers.

Augenscheinlich hat Beckmann zwei Personen formal aufeinander bezogen: jeweils auf den Außentafeln: ein Mann rechts, eine Frau links. Sie, im lila festlichen Kleid, ein Eis in der Hand, kniet vor einer Kerze, er hält eine Kerze in der Hand. Wie Stifter auf mittelalterlichen Bildern blicken sie zur Mitte. Diese beiden suchen also etwas, sie sind erleuchtet, sie erleuchten etwas – das Symbol der Kerze kann vieles bedeuten.

Der Mann hat ein Tuch vor den Augen, er erlebt das, was ihm passiert, als Blindekuhspiel. Beide, vor allem die Frau, sind umgeben von unerbetenem Ratschlag. Es wird ihnen eingeflüstert. Der Frau von zwei Männern, wobei der eine geheimnisvoll die Hand vor seine Worte legt. Dem Mann scheint die Frau dahinter an den Nacken zu greifen, den roten Blütenschal gerade zu rücken; ein Hotelboy zeigt ein Schild, will auf einen Weg locken.

Blindekuh ist ein vergleichsweise helles Bild des Malers, strahlend gelblich und weiß, und wie immer voller verschiedener Hauttöne. Beckmann liebte die diaphanen Kirchenfenster und suchte danach, solche Leuchteffekte in der Malerei zu erzielen. Die Farbe verbindet alle drei Tafeln miteinander. Schwarze Konturen liefern wie gewohnt schnelle Rhythmen, der stärkste Kontrast besteht zwischen Geld und Blauviolett.

Die einfachste Annäherung an ein Verständnis des Bildes kann über die Dichotomie von Götterwelt und Menschentum erfolgen. Ein solches Empfinden von Oberfläche und Hintergrund der Schicksale, sowohl der Welt als auch von ihm selbst, bestimmte Beckmanns Denken. Er hat die Theosophie der 20er Jahre aufgesaugt. Er verstand die Menschenexistenz als blindes Schicksal, geworfen in die Ewigkeit, aber mit einer unlösbaren Verpflichtung zur Selbstvergöttlichung.

In Blindekuh geben die Götter in der Mitte die Musik vor, der die Menschen mehr oder weniger ausgeliefert sind. Einer der raren Äußerungen Beckmanns nach darf man Zweifel haben, dass das menschliche Paar aus Blindekuh zueinanderkommt.

Konkret hat Gert Schiff ein Götterquartett benannt. Ihm zufolge spielt eine keusche Diana die Harfe, bläst eine ruhende Venus hinten eine lange Flöte. Mars trommelt frontal, martialisch und archaisch, und Bacchus trötet dazu vorn, als Pendant zu Venus, auf der Schalmei.

Gerd Schiff: „Eine seltsame Klangmischung; man kann sich vorstellen, wie dieses Konzert im Weltall widerhallt in Gestalt von Wirbelstürmen, Blitzen, Regenfluten und Erdbeben, wie es in den Seelen der Sterblichen nachzittert in Form wilder Leidenschaften.“ Der pferdeköpfige Minotaurus würde, so verstanden, eine in die Götterversammlung verirrte Griechin bedrohen; denkbar wäre auch Zeus, auf geilen Freiersfüßen verwandelt, zum Beispiel Europa entführend.

Die vorstellbare Musik parallelisiert das verspannte Gedränge, das bekanntlich Beckmanns ganze Leidenschaft war: „Höhe, Breite und Tiefe in die zweidimensionale Fläche zu verwandeln, ist mir stärkstes Zaubererlebnis, aus dem mir eine Ahnung jener vierten Dimension entsteht, die ich mit meiner ganzen Seele suche“. Es gibt gute Gründe anzunehmen, dass das Durcheinander von Harfe, Trommel und zwei Bläsern von Beckmann als dezidiert musikalische Kakophonie konzipiert worden ist.

Der Musik widmete Mathilde Q. Beckmann in ihren Erinnerungen „Mein Leben mit Max Beckmann“ ein eigenes Kapitel. Die Witwe des Malers beginnt mit dem Satz: „Es ist nicht allgemein bekannt, daß Max Beckmann ungewöhnlich musikalisch war und zeitlebens eine besondere Liebe zur Musik hatte.“ Diese Liebe, schreibt sie, wäre schon in Leipzig in der Kindheit entstanden (geboren wurde er hier 1884). Das Bild eines Drehorgelspielers, gemalt im Triptychon „The Beginning“, wird oft als eine Erinnerung daran interpretiert. Aber Beckmann bekam auch Geigenunterricht, und seinen späteren Erzählungen nach zur allgemeinen Freude. Mit dem Umzug nach Braunschweig 1895 war die musikalische Ausbildung allerdings beendet.

Beckmann hätte, schreibt Quappi, später „vieles auswendig“ gekannt. Sein Gehör sei so gut gewesen, dass er ihr Geigenspiel – eine professionelle Solistin – mit Kennerschaft hätte korrigieren können. Als die drei musikalischen Götter des Malers nennt Quappi Beckmann die Komponisten Bach, Mozart und Beethoven.

Danach rangiert Max Reger, in der Jugend bevorzugte Beckmann Johannes Brahms. An zeitgenössischen Komponisten werden Strawinsky, Bartók, Ravel und vor allem Paul Hindemith erwähnt, dessen „Mathis der Maler“ Beckmann immer wieder von einer Schallplatte gehört habe.

Eine besondere Vorliebe galt dem Jazz. Zwar ironisch, aber durchaus positiv gemeint schreibt er 1923 in der Selbstbiographie für den Piper-Verlag: „Ich liebe den Jazz so. Besonders wegen der Kuhglockenund der Autohupe. Das ist eine vernüftige Musik. Was könnte man daraus machen.“

Häufig wird ein Brief von 1926 an Quappi zitiert: „Der Lärm des gelben und des grünen Saxofons durchrast die Seele mir, wie buntgefleckte Riesenschlangen. – Ich weiß es wohl, der Urwald ist’s durch den ich gehe.“ Aufgeregt ist er, als ihm im Exil in den USA möglich wird, nach New Orleans zu fahren, wegen der „Negermusik“.

Beckmann habe, so seine Witwe, ein großartiges Gedächtnis für Motive und Instrumentation gehabt. Er hätte sich zuweilen ans Klavier gesetzt und phantasiert, es hätte ihm aber an Technik und Harmonielehre gefehlt. Dann hätte er mitunter gesagt: „Manchmal bin ich traurig, daß ich nicht Musiker geworden bin.“

Sehr sympathisch klingt, dass Beckmann in Gesellschaft oft darum bat, die Musik abzustellen, und auf die Frage, ob er sie nicht mag, hätte er geantwortet, doch, aber eben zu sehr, um sie als Hintergrundmusik für Unterhaltungen benutzen zu lassen.

Frederick Zimmermann, Kontrabassist im New York Philharmonic Orchestra, hat sich sehr für Beckmanns Malerei begeistert und war mit ihm befreundet. Einen Vortrag vor der Beckmann-Gesellschaft beginnt er 1962 mit den Sätzen: „Ich kenne keinen Maler, für den Musikinstrumente und der für sie typische Klang eine solche Bedeutung gehabt hätten wie für Max Beckmann. Er verlieh den Instrumenten besondere Kräfte und Eigenschaften, er formte sie, wie es bis dahin noch keiner getan hatte. Noten und Musikinstrumente waren für ihn nicht nur dekorative Dinge, die einer vornehmen Behausung Würde verleihen, ein Stilleben anspruchsvoll machen oder gar das Jüngste Gericht verkünden sollen. In Beckmanns Welt wurde Musik eng mit dem Leben verknüpft, sie war Aufschrei aus Angst, Schrecken und Hilflosigkeit und dann doch auch wieder Kammermusik. Der monotone Klang der Trommel war Trauma – Warnung, Hinrichtung, Kinderspiel. Das Geräusch der Pritsche und der Klang des Horns sollten im Triptychon Karneval (1943/43) und im Gemälde Fastnacht (1920) als zum Fest gehörende Schreie erkannt werden. Auch das Tambourin kommt da vor mit seinem Geklatsche und Geklingel – keine Melodie, Klänge noch ohne Symbolik, primitiv und zuversichtlich.“

Beckmann hätte absichtlich, so Zimmermann, Instrumente verbunden, für die es keine gemeinsamen Notensätze gegeben habe, wie Tuba und Violine im rechten Flügel von „Schauspieler“ (1942/42), wie Trommel, Oboe und Mandoline in der „Damenkapelle“ (1940). Wenn er so schrille, heterogene, disharmonische Klangbilder erstellt habe, sei das im vollen Bewusstsein musikalisch-schöpferischer Produktion erfolgt.

Mit diesem Hintergrund wird das Konzert in Blindekuh differenzierter und sogar heftiger wahrnehmbar. Wunderbar ist, wie Beckmann die Spieler jeweils charakterisiert und einen ganzen Katalog sinnlicher Qualitäten, Erotik, Aggression und Sanftheit, aufblättert.

Der im ganzen Werk von Beckmann dominierende Kontrast zwischen Gewalt und Fremdheit einerseits und Liebe und Erotik andererseits ist in einen Gegensatz von Harfe und Trommel komprimiert. So verstanden dürfte man das Bild in die lange Tradition der Mars-Venus-Allegorien einordnen, was vielleicht keine ganz falsche Überlegung ist angesichts der Krieg/Frieden-Umstände, in denen es entstand.

Neuere Interpretationen gehen ganz andere Wege. Erste Entwürfe für dieses Bild sind bereits vom Ende Juni 1944. Die Entstehung zog sich bis Ende Oktober 1945 hin. In diesen anderthalb Jahren dramatisierte sich die Lage um den Künstler und seine Frau im Amsterdamer Exil erheblich – bis die Befreiung kam. Zunächst aber sollte er sogar noch zur Wehrmacht eingezogen werden. Er kommt darum herum, immerhin schon 60 Jahre alt.

Deutsche Freunde werden verhaftet, die Deportation der Juden wird forciert. Nachrichten über Anschläge und die Erschießung von Widerstandskämpfern oder Geiseln häufen sich. Beckmann ist herzkrank und gefährdet, eine Ehekrise kommt hinzu. Der Krieg greift nach Amsterdam. – Nach der Befreiung konnte Max Beckmann zwar umgehend im Stedelijk Museum ausstellen (September 1945) – das erste Mal in Europa seit 12 Jahren. Aber die Beckmanns werden nun abermals, nun weil zum verbrecherischen deutschen Volk gehörend, kujoniert.

Das Ehepaar Beckmann hatte seit 1937 in Amsterdam gelebt. Quappi Beckmann musizierte gelegentlich mit Freunden, und so lange es geht, nahmen die Beckmanns am kulturellen Leben teil. Auskunft darüber gibt es nur noch spärlich, beide haben ihre Tagebücher beim deutschen Einmarsch vernichtet.

Die neue Interpretation von Christian Fuhrmeister und Susanne Kienlechner, dass Max Beckmann mit Blindekuh dem Amsterdamer Widerstand ein Denkmal gesetzt, ist zwar faszinierend, freilich abenteuerlich. Faszinierend ist die Idee, Beckmann habe mit diesem Bild sehr frei nach Picasso den Opfern des Terrors ein Memorial widmen wollen wie sein ewiger Kontrahent mit „Guernica“.

Darauf könnten Stier und Frau sowie die erhobenen Arme des Trommlers anspielen. Im Leipziger Katalog „Max Beckmann – Von Angesicht zu Angesicht“ argumentieren Fuhrmeister/Kienlechner, dass vom Duo der „Stifter“ angefangen in einem Dutzend der gemalten Figuren niederländische Schauspieler, Sänger, Dirigenten, ein Druckereibesitzer, andere Angehörige des Widerstands in Amsterdam porträtiert worden seien.

Der Trommler sei beispielsweise Wim Eggink, der die Zeitschrift „Slaet op den Trommele!“ mitgegründet hat. Sogar für den bösen Stiermenschen finden die Autoren eine mögliche Zuordnung, einen mit den Deutschen kollaborierenden Dirigenten. Das dissonante Konzert wäre so verstanden also ein Akt des Aufbegehrens gegen den sich abwendenden Dirigenten. Freilich wäre dafür die höchst subtile Differenzierung innerhalb der Instrumente und Spieler nicht nötig gewesen.

Skeptisch macht diese Interpretation aus zwei Gründen. Zum einen sind die Zuordnungen von Personen des Widerstandes zu den gemalten Köpfen aus Gründen der Ähnlichkeit zu einem hohen Anteil recht mutig. Das heißt, es gibt sehr wohl frappante physiognomische Details der historischen Fotos, die man mit der Beckmannschen Kantigkeit übersetzt, in den gemalten Köpfen zu ahnen bereit ist – aber willkürlich erscheinende Zuordnungen überwiegen.

Wichtiger ist der zweite Einwand. Nichts interessierte Beckman so sehr wie die Präsenz des Jenseitigen, die vierte Dimension – in den Formen der Gegenwart. Die Beckmann-Forschung ist in den letzten Jahren auf einem recht positivistischen Weg und versteckt dessen Weltanschauung. Beckmann wird zum Augenmenschen versachlicht – und trivialisiert. Lediglich in den Schriften der Beckmann-Gesellschaft ist die großartige Grundlegung zu Beckmanns spinnertem Denken von Friedhelm Wilhelm Fischer (1970) schon rehabilitiert worden.

Man sollte nicht vergessen, dass dieser Beckmann, wie seine frühen Tagebücher belegen, sich noch nicht 20jährig mit Spinoza, Schopenhauer, mit Kant und Goethe, mit Jean Paul und Nietzsche auseinandersetzte. Er geriet, auch wenn er seine Blavatzky-Ausgabe erst später kaufte, in den 20er Jahren auf die theosophische Bahn.

Er wollte lebenslang trotz gehöriger Skepsis an Reinkarnation glauben. Er las die ohne Index wohl 2000 Seiten der Theosophie von Madame Blavatzky vermutlich sieben Mal (sicher nicht komplett, er hatte seine „Stellen“, die er immer wieder aufschlug). Summierend schreibt seine Witwe Quappi: „So lange ich mich erinnere, war Max Beckmann auf der Suche nach Transzendenz und nach dem Geheimnis ewigen Lebens.“

In einem vielzitierten Tagebucheintrag, ein halbes Jahr nach Blindekuh, (4.7.1946), heißt es: „Der kalte Zorn herrscht in meiner Seele. Soll man denn nie von dieser ewigen scheußlichen vegetativen Körperlichkeit los kommen. Sollen alle unsere Taten immer nur lächerliche Belanglosigkeiten im Verhältnis zum unendlichen Universum bleiben. – (…) Nichts bleibt uns als Protest. – (…) Grenzenlose Verachtung gegen die geilen Lockmittel, mit denen wir immer wieder an die Kandare des Lebens zurück gelockt werden. Wenn wir dann halb verdurstet unseren Durst löschen wollen, erscheint das Hohngelächter der Götter – Salz leckst Du, armer größenwahnsinniger Sklave und Du tanzt lieblich und unendlich komisch in der Arena der Unendlichkeit unter dem tosenden Beifall des göttlichen Publikums…“

Das strikte Verständnis als Porträts und als „Würdigung“ des Widerstandes würde eine Wahrnehmung des Bildes in Dimensionen von Dieseits und Jenseits und der Ohnmacht darinnen, gegenüber dem „Götterkonzert“, behindern, denn es hätte eine höchst konkrete Schlagseite in der politischen Realität.

Aber möglich ist vieles. Dass ihn die Morde und Verhaftungen existentiell betrafen, ist sicher. Beckmanns Ego war groß genug, um den porträtierten Widerstand mit seinem eigenen Widerstand gegen die Götter, die Gefahren der irdischen Existenz, gegen die Leere der Unendlichkeit, gegen die „scheußliche vegetative Körperlichkeit“ zu parallelisieren.

Als er mit Hochdruck an Blindekuh arbeitet, notiert der Maler ins Tagebuch – es ist Juli 1944, der Monat der alliierten Landung in der Normandie, die Verbindung zum Sohn nach Deutschland ist abgerissen – : „Welch grausame Fantasie – immer warten, ob sich nun das Geheimnis entschleiern wird, und immer mit dummem Gesicht vor dem grauen Vorhang sitzen, hinter dem die Geister rumoren oder auch das Nichts…“

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