Neues vom Felsen-Menschen, einem Cousin des Baum-Menschen
Auf der Suche eigentlich nach den boschesken Zeichnungen des Meisters des Todes des Absalom fiel mir im Winter 2012 im Bestand des Dresdner Kupferstich-Kabinetts die unten abgebildete Zeichnung auf. Thomas Ketelsen und Kollegen hatten für diese und sechs andere Blätter den Meister der Dresdner Wilhelm von Maleval-Zeichnung erfunden und nach Untersuchungen von Papier, Wasserzeichen und Tinte sowie aus stilistischen Gründen gefragt, ob dieser unbekannte Zeichner ein Zeitgenosse oder gar ein Weggefährte des Hieronymus Bosch gewesen sein könnte. Eine sehr produktive Frage, wie ich meinte.
Die Zeichnung ist doppelt singulär. Sie variiert den Baum-Menschen und es fanden sich mehrere versteckte Gesichter. Dabei ist die Kombination aus hidden face und tripple face noch ‚extra einmalig’. Meiner Meinung nach lässt sich an der Zeichnung auch etwas über den Charakter des Baum-Menschen in der Hölle des Gartens der Lüste von Bosch erfahren – diesem Umstand gilt ein Kapitel in meiner Lüste-Garten-Studie.
Allerdings habe ich diesen Aspekt weggelassen, als ich die Zeichnung vor kurzem in einem Aufsatz vorgestellt habe. Den Aufsatz Vom Stamme des Baum-Menschen… ergänzt und korrigiert diese Notiz. Eine neue Beobachtung führt mich zu der Überlegung, dass tatsächlich vier Gesichter in der Zeichnung beabsichtigt gewesen sein sollten. Wegen einer Zeichnung aus dem British Museum in London folgt aus dieser Überlegung, dass der Zeichner tatsächlich in der unmittelbaren – und nicht nur späteren – Hieronymus-Bosch-Umgebung tätig gewesen sein könnte.
Felsen mit Blick auf eine ferne Stadt, Federzeichnung, Dresden, Kupferstich-Kabinett, Inv. C 3995. (hier nach: Die Erfindung der Landschaft um 1500. Einem Zeitgenossen von Hieronymus Bosch auf der Spur, (Der un/gewissse Blick 9), Katalog Wallraf-Richartz-Museum Köln 2013, Abb. 3, folgend Details aus dieser Schwarzweiß-Kopie)
Man muss nicht lange suchen. Ausgehend von der dreieckigen Höhle, die auch ein ‚Spitzbart’ ist, bildet sich das erste Gesicht.
Eine dunklere Linie oben am ‚Spitzbart’ signalisiert die leicht abwärts gebogene Mundlinie. Ein flacher, heller Nasenrücken führt hoch zu den beiden spindelförmig geschnittenen Augen an einer gewellten Linie. An den Augen sind jeweils dunkle Zonen als Augenhöhlen und –brauen angedeutet. Das zweite Gesicht sitzt eine Etage höher, es wird von der wuchtigen und langen Nase bestimmt. Daneben führt vom rechten Auge (in Draufsicht) eine verschattete Kehle nach unten.
Das linke Auge (in Draufsicht) kann man hinter der Nasenwulst nur ahnen, da dieses Gesicht weiter zum linken Rand der Zeichnung gedreht ist (vgl. im Verbund in der Gesamtansicht). Es gibt einen büßenden Hieronymus in Budapest, hinter dem im Felsen ein ähnliches Gesicht aufscheint. In der Abbildung links sieht man, wie die Vertikalen des ‚Nasenwulstes‘ und der Kehlung unterm linken Auge über/an der ‚Augenbraue‘ des rechten Auges im Hauptgesicht ansetzen.
Das dritte Gesicht (siehe unten) ist zwischen das erste und den rechts anschließenden Felsen etwas eingequetscht. Es bildet die Augen wie das erste durch kurze dunkle Spindeln, die Augenhöhlen sind verdunkelt, die Nase ist kastenförmig dick, Nasenlöcher und ein kurzer schiefer Mund sind angedeutet. Von der hohen Stirn stehen steil ein paar Haare ab. Die Kinnpartie ist undeutlich, ein Bart vorstellbar.
Hat man das dritte Gesicht erkannt, erklärt sich die merkwürdige Schlängellinie, wie herabkullernde Tränen, aus dem rechten Auge (Draufsicht) des ersten Gesichts. An dieser Linie vexiert der Blick von einem zum anderen Gesicht (siehe Gesamtansicht oben).
Für den Vorschlag des vierten Gesichts mit geschlossenen Augen nach oben rechts ‚blickend‘ danke ich Fritz Koreny. Eigentlich ist es dort ideal und bildet als rückwärtiges Gesicht mit dem zweiten einen Januskopf (im Verbund siehe oben).
In diesem Gesicht im Profil würde eine Mütze über die Stirn kragen, die die zweite Zone von oben bildet. Der dunkler schraffierte, kompaktere Abschnitt darunter wäre das geschlossene Auge. Die Nasen-Mundzone schiebt sich, so gesehen, etwas hündisch vor, ein kurzer Strich deutet den Mund, ein verdunkelter Punkt einen Nasenvorsprung an.
Ich habe das kleine eingezwängte als ‚drittes Gesicht’ bevorzugt, weil es stilistisch genauso wie das Hauptgesicht gebildet ist, kurz: grafisch, mit den gleichen zeichnerischen Elementen, wohingegen das von Fritz Koreny vorgeschlagene Gesicht eher malerisch entsteht. In dem oben genannten Aufsatz habe ich ein in das frühe 16. Jahrhundert datiertes Skizzenblatt aus dem British Museum zum Vergleich herangezogen. Es trägt sowohl Züge der Bosch-Nachfolge und zeigt auch ‚weiter entwickelte’ stilistische Merkmale, ähnlich wie in der hier diskutierten Zeichnung.
Skizzenblatt, Anfang 16. Jahrhundert, British Museum, Inv. 1946,0713.1068 (folgend: Detail; The Trustees of the British Museum, Common License CC BY-NC-SA 4.0)
Die zueinander gesteckten Gesichter rechts oben und die Staffelung der karikierten Gesichter finden sich auch in der Genter Kreutragung, für viele bis vor kurzem noch ein eigenhändiges Bosch-Gemälde, und zum Beispiel in der Szene vor Pilatus in Princeton. Stilistisch weist das Skizzenblatt die links und rechts herum geschwungenen Strichbündel in charakteristischer Weise dicht beieinander auf, auch die Kreuzschraffur von ‚Höhle/Spitzbart’ des Dresdner Blattes – bei den zueinander ‚gesteckten’ Gesichtern – lässt sich erkennen.
Es ließ sich ebenfalls bereits registrieren, dass auch dieser Zeichner gern in die Irre führt: Bei den gestaffelten Gesichtern unten rechts (siehe unten) führt die Anmutung zum vorderen Mann und über dessen rechtes Auge nach links, wo sich auf gleicher Höhe ein weiteres markantes Auge und profiligeres Gesicht befindet. Die ‚gemeinsame Augenlinie’ von vorderem und zweitem Mann verführt dazu, in den Formen links davon ebenfalls (zumal unter steil abstehenden ‚Haaren’) eine Stirn und einen Augenbrauen-Bogen zu sehen, ein zaghaft angedeutetes Auge, unter dem sich eine dicke Nase vorbeult – bis man weiter unterhalb das markantere Gesicht registriert und merkt, die ‚Nase’ des Mannes oben ist besser die Stirn dieses unteren Gesichts.
Im Grunde erfolgt es also in der Londoner und der Dresdner Zeichnung ähnlich: Eine Nasen- bzw. Mundpartie des oberen Gesichts ist gleichzeitig der Stirnbereich eines darunter befindlichen Gesichts.
Dies würde unterstützen, dass man für die Dresdner Zeichnung zu kurz greift, wenn man vom traditionellen tripple face ausgeht. Denn das ‚vierte‘ Gesicht ist genauso mit dem ‚dritten‘ verschmolzen wie das ‚erste‘ usw. Nein, der linke Felsen ist komplett ‚verteufelt’ (siehe oben im Verbund). Es ist freilich auch ein zusätzliches Argument dafür, dass es sich um den gleichen Zeichner handeln könnte.
Dann wäre also die Frage: Wie viele Jahre früher könnte die Dresdner Zeichnung anzusetzen sein? Dass sie das Werk eines jüngeren Künstlers als die Londoner Skizze ist, scheint mir augenscheinlich – zumal es in der Maleval-Gruppe eine zweite Zeichnung gibt, die stilistisch diesem Zeichner ‚gegeben’ werden kann und die wohl deutlich ‚zwischen London und Felsen-Mensch’ zu terminieren ist, und zwar mit Abstand in Jahren nach vorn (Felsen-Mensch) und nach hinten (Londoner Skizzenblatt).
Dies bestärkt mich in der im genannten Aufsatz mit weiteren Argumenten begründeten, aber vorsichtig formulierten Vermutung: Der Zeichner, der eventuell schon nach Boschs Tod 1516 das Londoner Skizzenblatt angefertigt hat, war in jenen früheren Jahren, als er den Dresdner Felsen-Menschen zeichnete, in unmittelbarer Nähe des Hieronymus Bosch beschäftigt – um es ganz vorsichtig zu formulieren.