Subversive Wende in der LVZ?

Am Wochenende verwunderte der Chefredakteur der Leipziger Volkszeitung. War das wirklich ein Kommentar von Bernd Hilder, der unter dem Titel „Neuer Protest im alten Westen“ erschien? Ich darf verspätet gestehen, dass mich Hilders Kommentare immer dann belustigt, ja fasziniert haben, wenn er bei CDU, FDP oder in der Regierung etwas kritisiert hatte, was ihm nicht neoliberal und rechtskonservativ genug war, um im zweiten Teil des Kommentars umzuschwenken und klar zu machen, dass es bei SPD und den Schlimmeren in jeder Hinsicht böse bestellt sei, und dass die eigentlich Schuld an dem haben, was bei ihren politischen Gegnern zu kritisieren wäre. Diese Stilfigur beherrschte Hilder perfekt.

Doch was passiert nun? Zwar ist er sich treu, kritisiert den aus seiner Perspektive linken Obama, der nichts geregelt bekomme und nannte vorher schon die Demonstrationen gegen die Wall Street. „Da nimmt es nicht Wunder, wenn hierzulande Lafontaine und Attac auf den neuen Zug des Protestes aufspringen wollen.“ Immerhin, diese Feindbilder stimmen noch. Noch keine Spur der Akzeptanz, dass solche Proteste etwas verfolgen, das auch liberale Wirtschaftsleute längst als Problem ausgemacht haben, nämlich als Tatsache, „dass sich die Finanzindustrie in ihrer Gesamtheit von einer der Realwirtschaft dienenden Funktion hin zu einem parasitären Dasein entwickelt hat, das mit Hinweis auf „Systemrelevanz“ dem Staat Mittel abpresst, die zuvor von den Wirtschaftssubjekten des Landes geschaffen wurden.“ (Klaus Singer) Die Schuldenkrise lässt sich nicht ohne die Finanz- und Bankenkrise beurteilen und beheben. Die aufgeblähte, „entfesselte“ Finanzwirtschaft, die von der Realwirtschaft nur noch mit einem Anteil im Promillebereich legitimiert wird, ist folglich ein systematisches Problem des Kapitalismus seit etwa 1970. Eine systematische Krise ist eine Krise des Systems. Sie spricht nicht für Kommunismus, sie fordert Reform, und wo die lahmt, Protest. Aber Bernd Hilder ist zu ideologisch und zu stark gepolt, er sitzt im Bunker und muss verteidigen, um das bemerken zu können.

Doch verliert der Kommentar ATTAC und Lafontaine gleich wieder aus den Augen und zählt viel des Hin und Her der Vertrauenskrise auf, die aus der Finanzkrise entstanden sei: ängstliche Bürger, Piratenpolitiker, Vorwürfe zwischen China und USA, Europa und der deutschen Regierung, Regierungswillkür mit Milliarden-Paketen. Hilder schreibt, fehlende politische Führung werde beklagt und meint anschließend: mit den Tugenden der „starken Führungspersönlichkeiten“ seien die finanztechnischen Details nicht lösbar. Dann folgt der Schluss, wieder unmotiviert: „Trotz des wachsenden Massenprotestes: Eine einfache Lösung der Schuldenkrise gibt es nicht.“

Ja pardauz, das ist ja… richtig originell. Eine einfache Lösung der Schuldenkrise gibt es nicht. Ich werde darüber nicht den Stab brechen. Redaktionsschluss droht, der Kommentar bekommt keine Kontur, die Achsen formieren sich nicht; man findet keinen Schluss. Sowas passiert. Interessanter ist doch, dass nicht einmal Bernd Hilder die Schuldigen an der Misere irgendwo im mittleren/linken politischen Milieu stellen kann. Das spricht nun wirklich für eine Krise.

Vielleicht aber unterschätzen wir den Kommentator, um auch diese Exegese mal etwas zu entfesseln. Denn „Eine einfache Lösung der Schuldenkrise gibt es nicht.“, das ist u.a. Bertolt Brechtsche Methodik. Etwas völlig Banales – die Nacht hat zwölf Stunden, dann kommt schon der Tag – wird sprachlich so eingesetzt, dass es poetische Qualität erlangt. Und gibt nicht schon der Titel des Kommentars, der mit  „Im Westen nichts Neues“ spielt, ein Indiz, an Literatur zu denken? Das berühmteste Gedicht von Brecht, das auf diesem poetischen Prinzip beruht, wird auch in Anarchokreisen gern zitiert. Wird Bernd Hilder gar subversiv und wollte genau das vermitteln? Die entfesselte Exegese sei mit diesem fröhlichen Gedanken abgebrochen.

Das Lied von der Moldau

Am Grunde der Moldau wandern die Steine
Es liegen drei Kaiser begraben in Prag.
Das Große bleibt groß nicht und klein nicht das Kleine.
Die Nacht hat zwölf Stunden, dann kommt schon der Tag.

Es wechseln die Zeiten. Die riesigen Pläne
Der Mächtigen kommen am Ende zum Halt.
Und gehn sie einher auch wie blutige Hähne
Es wechseln die Zeiten, da hilft kein Gewalt.

Am Grunde der Moldau wandern die Steine
Es liegen drei Kaiser begraben in Prag.
Das Große bleibt groß nicht und klein nicht das Kleine.
Die Nacht hat zwölf Stunden, dann kommt schon der Tag.

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