Schöner deutscher November

Gern hätte ich heute lustige Sätze von den Parteitagen der CDU in Leipzig und der FDP in Frankfurt/Main über den Mindestlohn gelesen, aber es ist noch zu früh. Die rechtsextremen Türken-Mörder behaupten noch die ersten Plätze der News-Charts. Obwohl es fast windstill ist, fallen die Blätter der Gemeinen Platane vor meinem Fenster in atemlos hastiger, gleichwohl lässiger Choreographie. Dieser stattliche Baum, auch Bastard-Platane genannt, ist ein Hybrid aus Platanus occidentalis und Platanus orientalis, was hier zur Sache gehört.

Ein wenig Orientalismus tut gut. Seit kurzem gehe ich mit einem Statement über Pünktlichkeit hausieren. Es lautet: Vor dreißig Jahren zog ich aus märkischer Heimat nach Leipzig, seit zwei Jahren bin ich unpünktlich. Achtundzwanzig Jahre lang war ich meist auf die Minute pünktlich. Ich wunderte mich manchmal selbst darüber, wie es geschah. Manchmal legte ich es drauf an und klingelte nach Mitteleuropäischem Zeitzeichen.

Das ist vorbei, passiert noch gelegentlich. Oft komme ich jetzt automatisch ein paar Minuten zu spät, nähere mich also dem vermutlichen deutschen Mittelwert. International verglichen ist das weiterhin ausgesprochen pingelig, eben deutsch.

Heute lebe ich wieder besonders gern in Deutschland; einen schöneren Herbst hat es hierzulande vermutlich lange nicht gegeben. Schon steht der Weihnachtsbaum auf dem Marktplatz, schon wird der Weihnachtsmarkt aufgebaut. Es ist riskant, den November vor dem Dezember zu loben. Doch die nächste Woche soll sonnig werden. Noch eine schöne Woche. Ein deutscher Herbst ist das jedenfalls bisher nicht. Der Deutsche Herbst ist ein Politikum. Darüber gibt es diverse Filme. Die Filme dieses Herbstes sind arabisch, spanisch, griechisch, italienisch, global. Wir erwarten, erst an den Fortsetzungen, so oder so, stärker beteiligt zu sein.

Ich halte die Luft an, wenn zwei Sekunden lang keines der ahorngleichen Blätter herunterfällt. So sammelt man Enttäuschungen, aber schön ist es doch. Der kleine Korse hatte vermutlich nur die Sommeruniform dabei, als er stöhnte: Fünf Monate Schnee, sieben Monate Regen, und das nennen diese Deutschen eine Heimat.

Ungelogen freue ich mich, auf die Platane blickend und einen Plan fassend, der mit einer Fahrradfahrt beginnt, auf eine Verkehrsregelung, die ich seit ein paar Tagen als so wohltuend wie symbolisch wahrnehme und in wenigen Staaten der Welt überhaupt für möglich erachte. Von Stötteritz kommend wird die Fahrt nach Westen gehen, vorbei am Völkerschlachtdenkmal, an Aral, links Audi und Mercedes Benz, rechts Honda und BMW, dann wieder links VW, das braucht seine Zeit. Schon sind Asisi-Panometer und die verspätete Symbolarchitektur des MDR-Gebäudes im Blick, wird die lange Einfahrt in den City-Tunnel gequert, gleich danach wird die Freude noch einmal wachsen.

Dass das in den ersten Novembertagen möglich ist, mutet verwunderlich an. Die ersten Novembertage sind in Deutschland traditionell mit Trübnis und Trauer verbunden, von der Historie bis in die Feiertage. Erst jüngere Ereignisse bringen etwas Freude hinein, wenn man sich dieser Tage auf dem Friedhof trifft. Vielleicht liegt das an der brutalen Wucht, mit der der Herbst üblicherweise mittels Regen, Kälte und Sturm gleichzeitig die Bäume leerpeitscht und der deutschen Lyrik, die ohnehin reich daran ist, weitere depressive Schönheiten ermöglicht.

Der jahrelang praktisch vierspurige Verkehr auf dem überbrückten Schlachthofberg, den man aber nur auf polnische, süd- und südosteuropäische Weise nutzen konnte, weil die Straße zu schmal für vier Autos nebeneinander ist, wurde erst vor wenigen Quartalen auf zwei Spuren reduziert, zugunsten zweier Fahrradwege. Ohne Nachteile des Verkehrsflusses übrigens, nach vielen Jahren recht ungemütlicher Zustände für Fahrradfahrer.

Wegen Bauarbeiten auf dem Schlachthofberg regelt derzeit eine Ampel den einspurig wechselnden Verkehr. Die Autos rücken auf den nördlichen Fahrradweg. Weil der westwärts normalerweise erst kurz vorher vom Fußgängerweg auf die Fahrbahn wechselt, war es einfach, mit einem temporären Schild den Fahrradfahrern das weitere Befahren des Fußgängerweges zu erlauben. Dort hat man zwar einem Dixi-Klo und weiteren Hindernissen auszuweichen, befindet sich aber auf sicherem Grund.

Um nach der Einengung wieder auf den Fahrradweg auf der Fahrbahn zu fahren, ist ein kleine Bitumenrampe an die Bordsteinkante gegossen. Diese kleine Erleichterung ist in der Lage, mich zu begeistern. Es ist nur eine Bitumenecke, etwas größer als das Beuysche Fettecken-Format. Zweifellos ist sie eine Soziale Plastik im ganz trivialen Sinne, und mehr als das, denn das je nach Temperatur flüssig-feste Material erzwingt die energetische Interpretation: dort ist soziale Wärme veranlagt.

Dort schieße ich rücksichtslos, wie wir Fahrradfahrer sind, über die schöne Bitumenecke auf den wieder gültigen Fahrradweg der Fahrbahn. Ob die beschleunigenden Autofahrer vorher von meiner potentiellen Existenz ausreichend informiert werden, ist mir unbekannt. Ich vertraue, dass das Laissez-faire, das die Regelung insgesamt vermittelt, in Deutschland nicht so weit gehen würde, darauf zu verzichten. (Nachtrag: das war ein Irrtum.)

Möglicherweise wäre in den Niederlanden oder in Dänemark die Angelegenheit klarer geregelt worden, denn auf der einseitigen Fahrbahn wäre Platz für beide Fraktionen, wenn sie sich langsam bewegen. Aber vielleicht ist nicht so viel Platz, wie Gesetze fordern, vielleicht wird Tempoverlust befürchtet, also wird der Fahrradfahrer auf den etwas verstellten Fußweg gelenkt, auf dem es mit Kinder-Anhängern kompliziert werden könnte. Die Regelung spiegelt durchaus, symbolisch abstrahiert, die hierarchische X-Liter-Hubraum-Kultur inklusive der offenen Geschwindigkeitsregeln auf deutschen Autobahnen. Auch der ADAC sollte gegen einen Mindestlohn eintreten.

Aber immerhin, die Bitumenrampe. Sie ist mehr als die Mindestregel. Sie hat genau die richtige Länge und Neigung. Sie hat Arbeit gemacht. Jemand musste sie gießen. Jemand hat es angewiesen. Es stand im Plan. Jemand hat die Verkehrsteile bedacht und die schwachen Teilnehmer nicht vergessen. Vor wenigen Monaten gab es dort noch nicht einmal einen Fahrradweg, jetzt wird bedacht, wie dessen Benutzer während der temporären Einengung über die Bordsteinkante kommen.

Egal, ob es eine Ausführungsbestimmung dafür gibt, deren Korrektheit die Welt Kopf schütteln ließe, oder ob hier Vernunft wild hervorbrach: Nicht weniger als die Folge einer vorherigen Verbesserung ist zu genießen, geradezu eine Tendenz. Dergleichen eingeleitet, ist der Fortschritt, systemtheoretisch verstanden, nicht mehr aufzuhalten. Wenn man mit diesen Gedanken den Schlachthofberg herunterrast, spürt man jedenfalls, dass sich etwas bewegt in Deutschland, das mit einem Mindestlohn durchaus zu tun hat, und das im November.

Drei, vier, vielleicht noch mehr Minuten fiel jetzt kein Blatt von der Platane. Liegt es an der Wärme über Mittag? Geht ein physiologisches Hoffen durch den Baum, es werde so schlimm nicht kommen in diesem Jahr? Dieser Hybrid aus Süden und Norden behält ohnehin erstaunlich lange seine Blätter, kleinere sind noch grün, sie sterben später.

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