Hellsichtige Bosheit

Über „Weiskerns Nachlass“ von Christoph Hein.

Dieses Buch mag in seiner sprachlichen Alltagsschlichtheit zuweilen ermüden, doch sogar das gehört zu seiner Perfektion. Es ist herrlich böse, ja gemein gegenüber seinem Helden und seinen Lesern und führt so komisch wie hellsichtig durch all die Hässlichkeiten der Gegenwart, zumal eines alternden Mannes in einer unsicheren Existenz.

„Weiskerns Nachlass“ vermeidet die auswuchtenden Erzählgänge des Romans davor, der „Frau Paula Trousseau“, und bleibt kompakt: ein Held unserer Zeit als Dozent auf halber Stelle an der Universität Leipzig, ein paar Wochen seines Lebens, oder weniger. Dr. Stolzenburg ist Geisteswissenschaftler mit enttäuschten Karrierehoffnungen, nun von Einspar-Ausmusterung bedroht. Sein prekäres Leben wird – quasi – von ihm selbst erzählt. Er weiß finanziell nicht weiter, Leute die es besser können, beraten und versuchen ihn. Der Autor Hein schleicht sich im Präsens jeweils schnell hinter die Figur, in langen Passagen ist der Roman Dialog.

Es beginnt im Billigflieger nach Basel. Die üblichen Klischees: eng, nachlässig, keine Zeitungen, alles ist zu bezahlen, der Flug unpünklich. Stolzenburg, eben überschlägt er ein paar seiner finanziellen und beruflichen Sorgen und seiner Liebesbeziehungen, hat auf der zweiten Seite des Buches die Vision, die Propeller würden zum Stehen kommen. Keiner bemerkt etwas, kein Ausweg, Panik. Haben sie Wünsche? Er reagiert nicht, Schluss. Am Anfang des zweiten Kapitels folgt das Erwachen aus dem Traum. Dr. Stolzenburg hat den Alptraum an seinem Geburtstag, er wird 59 Jahre alt. Schön gemein, denkt man das erste Mal, aber das ist nur eine Lesart, und die einfache.

Längst muss man sich an dieser Stelle wundern über Christoph Heins Stil. Innerhalb reichlich zweier Manuskriptseiten lesen wir, Stolzenburg, dieser Held ohne die feste Burg Luthers, ein Held, dessen Stolz bröckelt, „starrt in die Wolken“… „starrt auf den kreisenden Propeller“…starrt aus dem Fenster“…, „fast gierig starrt er auf das starre Stahlstück“… und dann folgt noch einmal, dass er „auf den stillstehenden Propeller starrt“.

So recht expressiv wird die Passage nicht, aber glaube niemand, hier schreibe ein nachlässiger Kandidat. Damit niemand übersehe, worum es geht, liest man außerdem, unser Held sei „schreckenstarr“ und die Propeller „stehen starr“. Wir verlassen den Traum, das Kapitel, mit dem Halbsatz: „…er starrt aus dem kleinen Fenster zur Tragfläche des Flugzeugs“.

Warum macht Hein das? Weil das wort „starr“ am besten zur Lebenssituation des Stolzenburg passt, zu einer historischen Situation dort, wo dieser Mann wohnt? Man muss aufpassen bei diesem Autor. Das erste Kapitel, die Serie der „starren“ Momente, teilt etwas anderes mit als das, von dem es erzählt, wie nicht selten bei Christoph Hein, diesem listigen Erzähler.

Stilistisch ist das Buch perfekt und auf der Kippe. Es geht konzeptionell schlicht zu bei Hein: Stil als Charakter von Zeit und Welt; er hat es schon bei Paula Trousseau zu weit getrieben. Schöne Literatur ist ganz anders. Manche Dialoge des Buches lesen sich wirklich trivial, sie sind so gut, dass sie ätzen. Das Buch wäre besser und schlechter ohne sie, wer es geradeaus liest, wird enttäuscht sein. Besonders ermüdend sind gewisse Resümees des Helden, der seine Erlebnisse zusammenfasst, Hoffnungen und Absichten modifiziert.

Im Grunde skizziert das erste Kapitel in der Flugzeugkabine einen Infarkt. Liest man das Kapitel, das wie notiert das Entsetzen des Stolzenburg schildert, der die Propeller auf seiner Flugzeugseite zum Stehen kommen sieht, mit dem medizinischen Vokabular im Kopf, reihen sich die Beschreibungen der Infarkt-Symptome tatsächlich wie die Perlen, bis hin zum „einseitig vollständigen Ausfall“. Und selbstverständlich, das merkt man dann beim Lesen des Buches, meint das erste Kapitel den Infarkt der Gesellschaft.

Einer Gesellschaft, die den Zusammenbruch zur Erstarrung erleidet, weil sie ihre geistige Tradition, ihren humanitären Grund, verliert und sich an „Akku und Batterie“, an Wirtschaft und Kapital ausliefert. Die 20 folgenden Kapitel beschreiben den Abbau, die Schwäche der Sinnfächer gegenüber den Nutzfächern in Universität und Gesellschaft, die Ohnmacht der „geistigen“ Lebenskonzeptionen gegenüber den Besserverdienern, die Vulgarität einer Gesellschaft ohne den Grund der studia humanitas. Niemals wird Stolzenburg die Schriften „Weiskerns“ veröffentlichen können. (Trotz der Tatsache, dass der Librettist, Komiker und Topograph existierte, sollte man in den Namen hineinhorchen.)

Dass wir das erste Kapitel lesen müssen als Vision der Todessekunde, macht Hein durchaus erkennbar. Denn es beginnt mit der merkwürdigen Formulierung, dass Stolzenburg, „die Stirn an die Scheibe gelehnt“, aus dem Fenster schaut. Die Stirn? Das macht man nicht, mit 59 Jahren, es sei denn, man ist zusammengesunken.

Übrigens lautet der einzige Satz des Kapitels, der aus der Fläche des Präsens ausschert, weshalb er doch etwas bedeuten sollte: „Für einen Augenblick setzte die Rotation aus, blieb die Schraube stehen, bewegten sich die Flügel nicht mehr um ihre Welle.“ Mein alter journalistischer Chef Günter Hofmann hätte den Satz angestrichen und kritisiert: das „sich“ gehöre hinter „Flügel“, anders sei es falsch. Aber der Literat Christoph Hein hat Recht. So schreibt einer, der genau sein will, in der Sprache hier und jetzt.

Christoph Hein liebt das Spiel mit Bedeutungen, er versteckt sie gern. Um beim ersten und letzten Kapitel zu bleiben: Nachdem im zweiten Kapitel die Schreckerstarrung als Alptraum erklärt worden war, kehrt das letzte in die selbe Flugzeugkabine zurück. Nun wird die Schreckvision als Phantasie des überreizten Gehirns des Stolzenburg aufgelöst. Er fasst sich, bestellt Wein und Wasser, ein verträgliches Ende deutet sich an. Doch nun erst vollendet sich die heimtückische Perfidie dieses Autors.

Denn er hat uns auf eine falsche Fährte gelockt. Zunächst lässt er Stolzenburg versöhnlich sinnieren, wie im „Ende“ das „Befrei-ende“ stecke, konstatiert er, dass er es wieder verpasst habe, „…auch diese Hoffnung ist ihm genommen worden.“

Die Rede ist davon, „wie schön und überraschend die Sprache ist“, und das macht der Autor Hein sogleich in subtiler Symbolik klar. Sein Stolzenburg, der wie angedeutet nicht die „feste Burg“ des Kirchenliedes hat, schaut nach dem Aussteigen noch einmal verwundert auf die Triebwerke „unter der linken Tragfläche“, die er für Propeller gehalten hatte.

Vorher hatte er seinen Schweizer Gastgeber gebeten, ihm eine SMS zu schicken, ob er mit dem Taxi vom Flughafen fahren dürfe. Dieser Baseler Kollege, der Stolzenburg für die monatliche Vorlesung engagiert, heißt Gotthardt. Wir haben schon Gutes von ihm gehört, aber allmächtig ist er auch nicht mehr. Der letzte Halbsatz von Christoph Heins Roman lautet, Stolzenburg „greift nach dem Handy und liest die Mitteilung von Gotthardt“. Eine zynischer witzelnde Formulierung, dass Gott jemanden zu sich rufe, sollte selten sein.

Hein inszeniert also am Ende – unter der Oberfläche – die Erkenntnis, dass das Erwachen im zweiten Kapitel, am Morgen des 59. Geburtstages, schon zum nächsten Traum, zur Vision in der Todessekunde gehört, in der das Leben des Sterbenden noch einmal an ihm vorüberzieht.

Als Gesellschaftsdiagnose – gerade hat Hein den Gerty-Spies-Preis für literarische Arbeiten über gesellschaftspolitische Themen erhalten – bedeutet das leider nichts Gutes. Gesetzt den Fall, die „Gesellschaft“ überlebt den blasphemischen Appell: Wer organisiert die Rekonvaleszenz?

Die doppelte Kodierung von Ereignissen und Motiven nimmt den Geschehnissen allerdings an dramaturgischer Notwendigkeit. Dr. Stolzenburg, der auf dem Wege ist, sich bestechen zu lassen, ist ein schwacher Held. Er verliert seine Moral aus sozialen Gründen, weil die Verhältnisse schlecht sind? Oder aus charakterlichen? Speziell als Mann, wegen seiner Biographie? Für alles gibt es Motive, und weil der Autor Hein ein scharfsinniger Analyst ist und nicht eben ein schwelgerischer Epiker, geraten ihm mehr symbolträchtige Ereignisse in die Erzählung, als die bräuchte.

Die einen nehmen es politisch, die anderen lesen von diesem Ego aus, dritte einen Universitätsroman. Beißende Ironie trifft die Wirtschaftseliten und ihren Nachwuchs, eine gewisse Ambivalenz waltet gegenüber Finanzjongleuren. Eine Inhaltsangabe muss hier ausbleiben, auch wenn es schade ist, all die kleinen Gemeinheiten nicht mitteilen zu können.

Eine Leerstelle der bisherigen Rezensionen soll noch zur Sprache kommen, die man die Ebene „Stolzenburg als alternder Mann“ nennen könnte. Im Übrigen wird dessen distanzierter, bindungsschwacher Charakter gewiss wieder psychologische Interpretationen provozieren. Als Dozent ist er den klischeehaft bekannten Anfechtungen durch Studentinnen ausgesetzt. Hier soll nur noch ein so hübsches wie sarkastisches Detail notiert werden.

Erinnert sei vorher an Christoph Heins Roman „Von allem Anfang an“ und die Posse, als der junge Held in diesem Roman seinen älteren Freund mit dem von ihm ebenfalls, noch diffus, begehrten Mädchen beim Sex beobachtet. Er ist ungeschickt in seinem Versteck und ejakuliert in weitem Bogen auf den Fahrradsattel des Mädchens. Später hört er, dass sie ungewollt schwanger geworden sei und erschrickt: hat er den Sattel nicht ordentlich abgewischt? So phantasiert ein jugendlicher literarischer Narzissus, darf man interpretieren, der einen fruchtbaren Boden für seine Zeugungen erhofft.

Für diese skurrile Szene findet Christoph Hein jetzt die Äquivalenz eines 59jährigen, sozial und psychisch angegriffenen Helden. Eine aggressive Clique 14-15jähriger Mädchen versperrt Stolzenburg, mit dem Fahrrad unterwegs, den Weg. Er stürzt, seine Einkäufe fallen herunter, ein Joghurtbecher zerplatzt, „einige Spritzer landen auf den Schuhen und Beinen eines der Mädchen“. Als Stolzenburg (er!) zunächst (!) die Entschuldigung verweigert, wird er verhöhnt, später niedergeschlagen. Das ist bitter.

(korrigiert, leicht verändert 17.11.)

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