Interpretationshubraum

Im Gewandhaus, Saisoneröffnung. Das Haus voll ehrenwerten älteren Odems, nach der Musik werden semigeistige Getränke geboten. Der Maestro lässt zu Beginn kurz warten, betritt dann resolut das Podest, alles wie üblich – und die Musik hetzt los. Sie jagt, sie hetzt. Allegro molto appassionato als Allegro molto, appassionato? Mendelssohns Violinkonzert e-Moll beginnt mit einem Motiv, das jeder kennt, nun aber merklich schneller. Bekanntlich hat Riccardo Chailly das Orchester bereits durch diverse Partituren gejagt. Diesmal geht das erst einmal zehn Minuten lang schief, obwohl der Solist Nikolaj Znaider wunderbar klar und ohne Prätention, eher auf solide Weise virtuos ist und seine Geige (von 1741) ungeheuer licht klingt.

Nein, einen Crash gibt es nicht, aber erst das Andante darf wieder durchatmen – was Sinn macht, doch nicht erklärt, warum von Anfang an Hurry up gilt. Es ist emotional unbefriedigend, einen erst aufsteigenden, dann abfallenden Melodiebogen zu hören, als spränge die Musik hinauf und flutsche hinab wie wir einst die Rutsche im Schwimmbad: und blitzschnell raus und wieder an die Leiter! Emotion braucht Zeit. In dieser Musik, leider am Ende doch minder, weht ein Wind nicht vom Paradiese her, da dräut nur, was droht – aber hurtig ging es drüberweg, und weiter, tempo tempo.

Von den geistigen Getränken aufgehalten und ermuntert, konnte ich beim Aufbruch anhand eines Instrumentenkastens einen Mitwirkenden vermuten und fragen, warum sie immer alles so schnell spielen, dass man gar nicht mehr hinterherkommt. Die Antwort war ein Schulterzucken: keine Ahnung, das machen wir so. Zu erfahren war noch, der Solist hätte die Probe etwas langsamer gehalten und heute abend das Tempo angezogen. Aber warum, nein, warum öfter mit Herrn Chailly, wie heute ebenfalls Mahlers 6. Sinfonie: nein, das Schulterzucken blieb freundlich.

Fast repräsentativ, die Umfrage. Vielleicht war es zu spät, die Antwort wäre zu kompliziert gewesen? Als dann das Gewandhaus-Magazin kam, Thema: Sponsoring, fiel der Groschen bei mir endlich. Man hat ja die Förderer dieses Orchesters nicht im Kopf. Für Kenner des Hauses wird die Pointe überaltert sein, denn Riccardo Chailly bekam schon vor einem Jahr einen Panamera S als Dienstwagen. Es kann kein Zufall sein, dass das Tempo erhöht wird, wenn Porsche zu den Hauptsponsoren zählt.

Übrigens: Lang Lang, der auf der Klaviatur sowohl den Bremsklotz als auch den Raser gibt, ist Audi-Boschafter: „aus Überzeugung“, verrät eine fein formulierte Broschüre des Unternehmens. „Wen wundert es da, dass Lang Langs Lieblingsauto ein reinrassiger Sportwagen ist: der Audi R8… Auch am Steuer ist er ganz Musiker. ‚Dieser Klang ist einfach unglaublich‘, meint er. ‚Und erst die Bewegung!’ Eher vorsichtig tritt Lang Lang auf das Gaspedal. Der Audi R8 beschleunigt in 4,6 Sekunden auf 100 Stundenkilometer. Erst bei über Tempo 300 ist Schluss.“

Klingt eindeutig nach Interpretationshubraum!

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