Wer hat uns verraten?, die Sozialdemokraten, oder: eine Tramödie

Auf der Suche nach dem Bauhaus-Jubiläum im Koalitionsvertrag stieß mir Eia-Popeia auf. Der Text enthält wundervoll leise demagogische Momente, ich liebe diesen Stil. Oder ist es Taktik? Das Wort Ungerechtigkeit kommt genau zweimal vor. Es geht dabei um zu vermeidende Ungerechtigkeit im Pflegefall und zu beseitigende „geschlechtsspezifische Ungerechtigkeiten“ insbesondere in der Arbeitswelt. Wer noch hofft, es sei sozialdemokratisches Selbstverständnis, gegen soziale Ungerechtigkeit an sich vorzugehen, der lese diese Regierungsvereinbarung.

Das hörten wir schon anders, sogar von der SPD und noch vor einem Jahr. 2,5 Millionen Kinder zählt der diesbezügliche ‚Schutzbund‘, die in Armut aufwachsen, mit den bekannten Folgen, das sollen schlappe 20 Prozent der unter 18jährigen sein. Mehr als 7 Millionen Erwachsene beziehen staatliche Unterstützung, ich nehme an, mehr hätten es nötig. Die es in Anspruch nehmen, sind im Osten (mit Berlin) 13,4 Prozent.

Gelegentlich führte die SPD das im Munde. Das Wort ‚Umverteilung’ kam kurzzeitig in Mode. Aber so ist das, wenn man zuviel Kreide frisst. ‚Umverteilung’ kommt in diesem Vertrag nicht vor. Allerdings wird das Wort ‚gerecht’ häufiger verwendet: bedarfsgerecht, leistungsgerecht und sachgerecht, generationengerecht, tiergerecht und bildungsgerecht. Der Absatz nach der Überschrift, die ‚Chancengerechtigkeit’ benutzt, verspricht mehr Mittel für Bildung, kündigt an, Kitas und Ganztagsschulen zu fördern.

Ja, man riecht noch schwach hindurch: da sind auch Ungerechtigkeiten gemeint, da ist beabsichtigt, unteren ‚leistungsärmeren‘ Chargen zu helfen. Doch bekanntlich darf man den Teufel nicht nennen. Spaltung in Deutschland?, Arm und Reich?, Disproportionen, die systemische Relevanz haben?, davon weiß der Koalitionsvertrag nichts.

Putzig, dass der EU-Günther-Oettinger, kein SPD-Freund, diese Partei während der Koalitionsverhandlungen verwarnt hat, sie setze nur auf „Umverteilungsthemen“, statt Deutschlands wirtschaftliche Zukunft im Auge zu behalten.

Das ist tricky für die SPD. Ungerechtigkeit gibt es nicht, ‚Umverteilung‘ ist ja für die Regierungspartner eher ein kommunistisches Unwort. Oettinger nennt es als Kritik, aber er beobachtet korrekt. Doch was er meint, was die SPD eventuell meint, ist im wattigen Text nur noch zu ahnen. Der sprachliche Widerspruch wäre schöne ‚positive Demagogie‘, wenn sich die SPD für die Koalition die Maske aufgesetzt hätte.

Koalition als Stigma, das alte Lied. Die SPD fällt sogar hinter US-Gerechtigkeits-Diskussionen zurück. Im Land der am fröhlichsten akzeptierten, dringend gewünschten Ungerechtigkeit, weil allein Leistung zähle, ist die Schere zwischen Reich und Arm wieder bis unter den Stand von 1920 aufgegangen – die Gesellschaft profitiert nicht von der Globalisierung der Gewinne. Sie hat sich seit den Tycoonen, den legendären ‚Räuberbaronen’ in Öl, Stahl, Eisenbahn und Auto gewiss hinsichtlich der Grundversorgung der Bedürftigen entwickelt – 40-50 Millionen US-Amerikaner (veränderlich, und jetzt wird gespart!) beziehen als ‚Ernährungs-Aufstocker’ Lebensmittel durch das Supplemental Nutrition Assistance Programm. Nicht verändert aber ist das klare Verhältnis zwischen vermeintlich Gleichen und Gleicheren, das konnten die Reformen nur zeitweilig trüben. Verkürzt: hinsichtlich des Vermögens, Gerechtigkeit zu organisieren, ist das System auf dem Stand von 1920 und wieder rückwärts unterwegs.

In den USA aber wurde jüngst nicht zuletzt dank Occupy offensiver über Umverteilung und die sozialen Schieflagen als Gefährdung eines Gesellschaftsvertrages – siehe die Pleite von Detroit – diskutiert. Allerdings: nicht im Senat etc., wohingegen hierseits von einer Regierungspartei die Rede ist, das ist die Sonnenseite!

Wen Armut am Leben hindert, der hört gar nicht gern, wie reich und glücklich Deutschland sei. Herrlich zuletzt auf allen Kanälen die ehrliche Freude von Sigmar Gabriel über die zukünftigen 8.50 Euro Stundenlohn. Man wird durchgerechnet haben, was das für eine Mutter und ihr Kind, die sich den Luxus leisten, in einer eigenen Wohnung zu leben, bedeutet – und feiert es als Erfolg. Wenn man an ideologischer Bescheidenheit verhungern kann, wird es bald die SPD treffen. Das muss dieses neue Genre sein, eine Tramödie.

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