Wie – vielleicht – Theater unter die Haut geht

Ein tatsächlicher Traum sei hier skizziert, den mir vermutlich das Leipziger Centraltheater und speziell Peter René Lüdicke eingegeben haben. Zweimal in der vergangenen Woche sahen wir Lüdickes ganzkörperlich verschmitzte Penetranz, das kann durchaus bis in die Nacht verfolgen. Vor allem die Pension-Schöller-Aufführung vom Sonnabend  (28.1.2012) ist wohl verantwortlich für den überraschenden Traum.

Die wichtigen Momente des Traums sind schnell notiert. In einer Gruppe gleichaltriger Studenten oder Schüler, völlig unbestimmt, besuchen wir ein Kunstmuseum, in Polen, in einer mittelalterlichen Burg. Die Gruppe nimmt einen langen Steinkorridor zum Eingang. Ich kenne mich aus, denke ich, will abkürzen und gehe einen anderen Weg hinein.

Drinnen weiß ich nicht weiter, es wird dunkel, dann rutsche ich etwas abwärts, nur sehr kurz, nicht wie öfter im Film, und sitze plötzlich im Ausstellungsraum in einer Vitrine. Um mich herum steht Kleinplastik, hell erleuchtet, wie jetzt auch ich. Die Vitrine ist groß genug, dass ich aufrecht sitzen kann, schräg vor mir in Augenhöhe ein kleines Adam-Eva-Duo.

Natürlich bekomme ich einen Schreck, ich habe in dieser Vitrine nichts zu suchen. Gut, dass ich ein Buch dabei habe – ich tue so, als lese ich und verfolge, was um die Vitrine herum passiert. Umgehend kommen ein, zwei, drei Leute von der Aufsicht zusammen und finden ebenfalls, dass ich da nicht hingehöre. Jetzt könnte ich mich selbst angucken, denke ich zwei, drei Male, geht aber gerade nicht.

Nun gehört das Ansehen von Kunstwerken, gern auch in Vitrinen, zu meinen lange geübten Gewohnheiten, die Situation ist mir vertraut, zumindest von außen. In einer Vitrine gesessen habe ich noch nicht, jegliche eventuelle eigene extrovertierte Aktion ist mir suspekt. Dieser Traum, dessen Auflösung hier nicht weiter interessiert, hat mich also sehr verwundert – bis mir einfiel, was ich am Abend vorher im Theater gesehen hatte.

Gewiss ist der herrliche Mime Peter René Lüdicke mit seiner Improvisationslust ein Aufführungsmörder. Doch die Divergenzen in einigen Leipziger Inszenierungen sind ohnehin eklatant, und die Brüche, die Lüdicke, am lustvollsten in der „Publikumsbeschimpfung“, ausdehnt, sind unbedingt gewollt. Man kann sich dennoch den Schrecken der Kollegen Schauspieler vorstellen, wenn Lüdicke etwas einfällt und er ruft: „Waate doch maal, waate mal!“ Der Arbeitstag droht mindestens zwanzig Minuten später zu Ende zu gehen.

Am Sonnabend – die Aufführung wurde schließlich knapp eine Stunde länger – steckte er Kollegen an, leistete selbst aber am meisten. Es war ein sehr vergnüglicher Schauspielabend, wenn man einmal übersieht, dass im zweiten Teil nicht nur das Landhaus leer ist – und sogar Lüdicke gegen Ende zu spielen hat, wie ihm nicht liegt. Die bunte finale Tortenschlacht vergisst man dann wiederum nicht. Das ist gut gemalt – war nicht gerade der 100. Geburtstag von Jackson Pollock?

Aber der Höhepunkt war da schon vorbei – und die Höhe des Vergnügens war verständlicherweise nicht zu halten. Lüdicke hatte jemanden aus dem Publikum ins Wohnzimmer der Pension Schöller gebeten. In „Gerald“ fand er einen dankbaren Mitspieler von jenseits der Vierten Wand. Gerald, ein geistig agiler Mann um die 60 mit kräftigem Bass, machte sich gut im Bühnenlicht.

Er stimmte die Sauflieder mit an, die Lüdicke sonst allein über die Bühne bellte, er steuerte Witze bei, die beiden redeten über Welt und Ehe. Hagen Oechel kam und ging, er musste warten und ließ sich anstecken. Gerald machte locker mit, so dass Lüdicke ausrief: „Gerald, jetzt kriege ick Angst, dass du mir völlig an die Wand spielst!“

Regisseur Sebastian Hartmann lässt die „Vierte Wand“, jenes angeblich so lähmende Requisit des älteren Theaters, ausgiebig besprechen, von Philipp Klapproth/Lüdicke und Eugen Rümpel. Wenn letzterer dran ist (Holger Stockhaus sehr gut), sitzt Lüdicke im Publikum, hinter der Vierten Wand. Dieses Spiel passt gut zu dem Stück – von 1890, mitten aus dem Naturalismus. Auch die Tür-auf-Tür-zu-Tricks des älteren Boulevards werden genüsslich persifliert.

Meine träumerische Reaktion ist geprägt. Bühnen sind mir von unten viel angenehmer als von oben. Man sieht besser, wenn man mit dem Licht schaut, als wenn man selbst beleuchtet wird. Offenbar ist mir die Vierte Wand auch eine Schutzwand. So wichtig, dass ich mir eine unangenehme Situation zusammenträume, nachdem es im Theater ausführlich darum ging?

Meine Reaktion könnte auch theoretisch sein, ein paradoxer Widerspruch. Ich bin gewiss, dass die Situation  Schauspieler-Zuschauer ein Fixum ist, an dem man sich reiben kann, mehr aber nicht. Die Vierte Wand musste eingerissen werden wie das Museum geschliffen, aber beide bleiben stehen. Mind the gap! Sie gehört – Muhme erzählt Märchen – zu dem, was unter eine Immunität des menschlichen Übens fällt – im Sinne Sloterdijks („Du musst dein Leben ändern“).

Eine Pointe: So unangenehm wurde es nämlich gar nicht im Licht der geträumten Vitrine. Dieser Traum wäre sogar umgekehrt zu deuten, als ich im ersten Moment verstand: als uneingestandene, schüchtern getestete Lust am Rampenlicht. Das hat mich schließlich am meisten überrascht: kaum vorstellbar. (Andere Interpretationen sind freilich ebenfalls möglich.)

Und wo erfährt man das – angenommen, die Vermutung, der Traum komme aus dem Theater, trifft zu? Dann ist die Formulierung nicht übertrieben, sondern wörtlich korrekt: Dieser höchst amüsante Theaterabend ging mir unter die Haut.

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