Murx, murx, murx den Marthaler

„Von morgens bis mitternachts“ von Georg Kaiser am Centraltheater Leipzig. Sie stehen rührend nackicht auf der Bühne, das „Mädchen und der Mann“, nach der Beichte, der hilflosen Befreiung zum Tode. Dann erschießt sich – unnötig splatterig verkomischt – der ausgebrochene Mann, vorher durch Regisseurinnenwille zurückgekehrt in seine Kassierer-Zelle.

Hat also alles nix gebracht. Wer schafft schon, „Von morgens bis mitternachts“ ein neuer Mensch zu werden. Kleiner Bank-Angestellter bricht aus, verführt von einem Moment einer Frau. Ihr Handgelenk war es, er nennt es Schönheit, man weiß, sie ist geil.

Birgit Unterweger und Guido Lambrecht stehen bei der blitzartigen Erweckung des Kassierers zum Ausbruch 15 Meter voneinander entfernt, sie wendet ihm den Rücken zu. Zwar kann man sich vorstellen, was die Regie damit bezweckt – zum Beispiel anzuzeigen, der Kassierer hätte auch andere Gründe, sein Leben einmal zur Ekstase zu treiben. Doch die Aktion reiht sich ein in das antitheatralische Inszenieren der letzten Jahre: ein theatralischer Text wird zum Gerede.

Die Gründe, warum schon die zweite Aufführung am Sonnabend nur noch bis zur 12. Reihe gefüllt ist (die ersten vier sind sowieso überbaut), sollten nicht beim Publikum gesucht werden. Es schien sich gerade wieder etwas aufzuraffen, doch die Ermüdung in Leipzig ist offensichtlich – für einen eiskalten Abend – noch zu groß.

Der Kassierer befreit sich also aus seiner Schießscharten-Bank-Zelle. Frei, frei! Und koste es das Leben. Die Jahre vor 1914 hatten eine geradezu eklige Kultur des Hangs zum Tode hin. Georg Kaisers Stück gehört, gewiss nicht affirmativ, dazu.

Der Rausch des Geldes erfasst den Kassierer, die verheißungsvolle Italienerin aber ist weg. Er verlässt seine Familie, darüber stirbt die Mutter. Aber da ist ja noch der Vater, der Über- und Gottvater: Das Geld lässt ihn durch die Großstadt taumeln.

Er spielt selbst den dionysischen Gott. Seine Scheine stürzen die Braven in Taumel und Chaos (Rennbahn), erniedrigen die Dekadenten und Prostituierten (Ballsaal), entzünden Extasen der Gier. Es zerstört seine Familie, er kauft sich elendigen Rausch, doch weder das Glück des Fleisches noch das der Seele (Heilsarmee) ist damit zu haben, er bringt sich um.

Kenntnis des groben Ablaufs des Stücks ist von Vorteil, wenn man sich in die Leipziger Inszenierung von Christiane Pohle setzt. Die  Regisseurin scheint ein wenig religiös-metaphorischen Ballast abgeworfen und ein paar männlich-weibliche Klischees aufgebaut zu haben, letzteres akzeptabel. Leider versteht man das am Anfang noch nicht, wodurch der zotig irritiert. Danach durfte man sich gelegentlich an die „Männerphantasien“ von Klaus Theweleit erinnern, den Versuch, eine bald mörderische Männerpsyche aus dem Geist des späten 19. Jahrhunderts heraufziehen zu sehen.

Das Geld, das Geld, das Geld. Ich wunderte mich, warum die Akteure die Geldscheine von Beginn an wie strafend, Bündel wie Geschosse, von der Bühne feuerten. Zunächst wiederum auf Kosten der szenischen Logik, wuchs damit aber ein Hassmotiv, eine Ahnung vom „Fetisch“, um dieses schöne alte Modell zu bemühen.

Nachdem Georg Kaiser selbst auf die Bühne kommt (Günther Harder) und seinen Verleger am Telefon penetrant um Geld angeht, nachdem es gelegentlich extra geklimpert hat und schließlich Lambrecht fortwährend Geldstücke die schräge Rampe hinunterkullern lässt, ist der Rote Faden vielleicht sogar schon etwas zu dick.

Woran liegt, dass der Abend zähflüssig und zu lang wirkt? Er ist gut gespielt. Birgit Unterweger überragt als mondäne Florentinerin ebenso wie mausgrau schüchtern von der Heilsarmee. Guido Lambrecht wirkt nur manchmal etwas überhastet (er ist der Gehetzte), von den anderen bekommen Andreas Keller und Günther Harder zurecht Szenenapplaus.

Aber der Abend hat dramaturgische und stilistische Risse. Das eine liegt in der Natur der Sache: exzessierte Splitter hinterlassen Lücken, und sogar die Hauptfigur, der Kassierer, ist nach 25 Minuten ein ganz anderer. Auch die Fabel ist ja geschwächt. Dass bei Kaiser der Ausbruch zum Neuen Menschen pathetisch als Kreuzigung endet, ließ sich gewiss nicht auf die Bühne zwingen (andere, kreuzmetaphernverliebte Regisseure hätten das zelebriert). So endet der Held hier weniger tragisch als grotesk. Das heißt aber auch, sein Ausbruch ist schon unter einen viel blasseren Stern gestellt als im expressionistischen Elan von 1912.

Also nur das Menetekel des bösen Geldherrgotts, ergänzt von fatalistischer Lebensgier und ein paar genderpsycho-sozialen Hinweisen? Reicht das? Nebst gut gespielten, aber dämlichen Aktionen gegen die „Kunst“? Reicht das, überzogen, grotesk, punktiert vorgetragen?

Zwar ist, was da auf die Bühne kommt, längst Plattitüde, ja Folklore. Reiner, nackter Mensch versus böse Kapitalgesellschaft. Anspielungen an Occupy und so weiter werden vermieden. Rettung als Rückzugssehnsucht, wie klassisch expressionistisch? Entwaffnet entwaffnend stehen „Mädchen und Mann“, geläutert, als das erste Menschenpaar auf der Bühne, erstaunlich, was alles noch geht. Romantischer Blödsinn, aber, doch, rührend.

Hat jemand schon einmal untersucht, wie weit Richard Dehmels „Zwei Menschen“ in den Expressionismus wirkt? Mehrere Generationen, von Kirchner bis Pechstein und Felixmüller, hat dieses Versepos von 1905 angestiftet. Vielleicht gab es auch das Modell für Georg Kaisers Adam und Eva-Szene?

Aber reicht das? Geld, Geld, Geld, das ist das Stigma. In Zeiten des Aufstiegs des „Konsumismus“ zur rettenden Doktrin mehr als jemals zuvor. In Zeiten von Finanzjongleuren, deren Gier ganze Banken zu Fall bringt, in denen die Finanzwirtschaft sich parasitär verselbständigt. Der Mensch werde selbst immer geldähnlicher, schrieb Boris Groys vor etlichen Jahren, er konnte es theoretisch begründen.

Behandelt wird das alles nicht. Doch von einem traurigen Aufschrei kann man keine Diagnose verlangen. Inklusive des langsamen, trotz Gitarrengeklimper nun doch etwas thesenhaften Finales wohnt dem Abend ein melancholischer Geist inne, und das passt. Theater ist hier übrigens auch Museum – wenn man Reminiszenzen an den Expressionismus erkennen darf.

Die Inszenierung lahmt vermutlich auch durch ihre stilistische Ambition, das ist schade. Zwar freut, körpersprachliche Übungen à la freier Tanz jener Jahre zelebriert zu sehen, zwar bemerkt man wohltuend rigorose Rhythmuswechsel. Doch drei, vier Male überdehnt die Regisseurin die Szenen minutenlang, ohne dass es spannend würde.

Ist Christoph Marthaler schuld? Der konnte das, lange vor dem legendären „Murx den Europäer! Murx ihn…“: Szenen endlos zu dehnen. Viele haben probiert, das anzuwenden ohne nachzuahmen. Vielleicht hatte „Von morgens bis Mitternacht“ in diesen Momenten sogar zu viel (ohnehin wiederholten) Text, zu viel zelebrierte Musik (Ernst Surberg)?

Doch ob dieses Stilmittel weiterhin funktionieren würde, ist fraglich, es wird schnell Manier und Spleen. Na passt ja? Denn ist es nicht auch recht spleenig – was für ein Genießer, dieser Kaiser! – die Story von einem Handgelenk aus zu starten? Ein Wahnsinn. Das Leben hängt mitunter von einem Handgelenk ab. Wenn man das zeigen könnte, das wäre Kunst.

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