Ist Shakespeare ein postdramatischer Autor?

Sebastian Hartmanns „Nackter Wahnsinn – Was ihr wollt“ am Centraltheater Leipzig

Das hatte schon Größe, was am Sonnabend im Centraltheater auf die Bühne gelassen wurde. Sagen wir, zur Hälfte. Also eine halbe Größe, vielleicht sogar unfreiwillig. Halbiert ist der Abend durch eine Pause. Einige Zuschauer gehen vor dem Ende, viel zu viele für eine Premiere. Der Applaus ist premierentypisch intensiv, aber auch dabei steht ein Viertel des Publikums bald an den Türen.

Sebastian Hartmann, der Regisseur, macht sich erstaunlich nackicht, entblößt sich. Am Ende ließ er es so auf die Bühne. Nein, hier wird nicht der Künstler mit seiner Figur, seiner Arbeit verwechselt. Es geht, obwohl der Abend von Jürgen Kruse begonnen worden ist, um einen wichtigen Punkt von Sebastian Hartmanns Theaterverständnis. Der Gewinn für Leipzig ist gering. Das allgemeine Publikum hat das gute Recht, das theaterinterne Gezetere langweilig zu finden.

Lustig beginnt es allemal. Die Inszenierung tritt trotzig auf. Als Untertitel steht in Klammern der Satz „Ich will nicht dass mir jemand sagt welche Rolle ich zu spielen habe!“ Hartmann bleibt sich treu, das sieht man dann auch, er ist ein Künstler.

Ich zitiere, Herbst 2008, mich selbst (LVZ), nach Beginn der zweiten Saison: „In seiner Haut möchte man jetzt nicht stecken. Wenn er als Intendant gewinnen will, muss er seine künstlerische Wahrheit als Regisseur relativieren und Alternativen zur Alternative anbieten. Dazu braucht er das ganze Wohlwollen neugieriger Zuschauer.“

Er hat sich gegen den Intendanten entschieden, wie bewusst auch immer, das ist ehrenwert für den Künstler. Dass es ihm nahe geht, ist Hartmann mittlerweile anzusehen.

Dieser Regisseur hat sein Ego oft in die Runde gehalten, dass es nicht zum Aushalten war. Diesmal geht er weiter, er riskiert mehr, als er sich spiegelt. Gleichwohl reiht er dann die gewohnte Bilderestrade mit sinnlich-vulgären und klugen witzigen Elementen. Mit hohem Sinn, zweifellos, aber weiterhin ohne Form, die drei Stunden in ein Erlebnis bringt.

Der Abend ist eine Stück-im-Stück-Kompilation, wie sie Michael Frayn berühmt machte. Hartmann variiert dessen „Der nackte Wahnsinn“, den boulvardesken Irrsinn einer Probe in Zeitnot vor der Premiere. Geprobt wird anders als bei Frayn nun Shakespeares „Was ihr wollt“, die Verwechslungskomödie um Rolle, Falschheit und Verstellung. Daneben kommen Antigone, Ophelia und andere und überraschenderweise Natascha Kampusch (Cordelia Wege) zu Wort.

Das Bühnenbild (Hartmann) ist gut gespart, übrigens hält sich auch Steve Binetti sehr zurück. Grelle Leuchtwände aus Neonröhren formieren die Bühne, zeitweise als Gitterkäfig. Mit dem vorhanggroßen Gemälde der „La Grande Odalisque“ von Ingres beginnt das Stück. Das Vorhang-Bild wird dann zwar unwirsch hochgewunken, ist aber immer wieder zu sehen.

Was kann die schöne Odaliske dafür? Nicht sie, sondern der Stil des Bildes ist gemeint, als Feindbild. Das Bild ist eine Ikone des Klassizismus. Der schöne Rücken der Nackten ist drei Wirbel zu lang, damit die Proportion des Bildes stimme. Alles für den Goldenen Schnitt, hieß es bei Ingres, Form über alles. Dies als Bühnenbild zu wählen für die heutigen Theaterprobleme des Regisseurs, ist grob gezimmert: Es ist leicht, den Gegner zu übertrumpfen, wenn man ihn zum Idioten macht.

Da wird etwas passend gemacht, sogar im formalen Sinne. Das gestreckte Bild mit den schönen langen Beinen passte nicht ins Vorhangformat, so dass zu der Verhässlichung der Details im Riesenbild noch die Erledigung der Komposition durch Beschneidung tritt. Das ist keine Lappalie, sondern eine visuelle Obszönität. So hässlich ist keine Klassik.

Am Anfang das Ende (des Probenlaufs). Ein Stip Shakespeare (Andrej Kaminsky in undankbarer Minirolle) leitet quasi zum Ende der geprobten Inszenierung: ein klassisches 19.-Jh.-Grande-Finale mit Eisbär, Elefant, Kamel und voller Staffage. Igitt, der Ingres-Stil! Da muss der Regissseur (Manuel Harder) kategorisch eingreifen: Grausam, Herrschaften, wir treffen uns zur Kritik.

Erstaunlich ruhig geht es im ersten Teil zu. Wo sind nur die chorischen Elemente des „Leipziger Stils“ hin? Wo die Laustärken, die minutenlangen Improvisationsaussetzer? Auch im zweiten Teil dehnte sich nur eine improvisierte Szene.

Selbstverständlich, ein Vorgriff nach hinten, durch Maximilian Brauer. Der lässt als Jesus Christus, weil dessen Esel realistisch auf die Bühne scheißt, den Heiland Scheiße kosten. Und wie Brauer so drauf ist, kostet er das aus. Das ist unangenehm und wäre als Motiv der Erniedrigung grandios. Die Szene ist allerdings intellektuell peinlich.

Kommt Jesus aus dem Vertrag mit seinem Herrn? Was wird Gott-Harder-Hartmann tun (oder noch Kruse? – der Regisseur als Gott schon bei Frayn)? Ein Drama-Urmodell mit verwischter Rollenverteilung Gottvater-Gottmensch? Zweifellos, aber was soll das beweisen? Mein Gott, es geht da um Themen des Letztendlichen, um die Natur Gottes, um das Erbarmen Gottes, was für diese Minuten viel zu hoch gezielt ist und weder die Koketterie (Vertragsverlängerung Hartmanns) noch die Blasphemie verträgt.

Zurück nach vorn. Köstlich ist, die burschikose All- und Ohnmacht des Regisseurs (Manuel Harder) zu erleben, der seine Truppe zu erreichen versucht. Man durfte sich Hartmann darin vorstellen. Diversen Berichten zufolge kann er auf der Probe sowohl charmanter sein als auch giftiger. Er trägt seine Verzweiflung in den Proben dringlicher vor, spielt seine Macht perfider aus, als Manuel Harder es in einem engagiert-genervt-verzweifeltem Dauerzustand auf der Bühne zeigte. Ok, das ist auch jeder Regisseur.

Probenkritik. Regisseur-Dompteur Manuel kämpft zunächst vom Pult in der siebten Reihe um das Theater. Niemand, der nicht Tick und Neurose zelebrieren würde (wunderbar Hagen Oechel und Edgar Eckert, ebenso Susanne Böwe und Sarah Franke, aber auch Manolo Bertling und Matthias Hummitzsch, später Thomas Lawinky).

Alles ganz real, die Bühnensituation legitimiert es. Die Schauspieler werden bei den Vornamen gerufen, bei ihrem Spitznamen die Souffleuse (Brigitte Ostruzjnak). In etlichen Modulen der Inszenierung wird davon die Rede sein: die Rolle und das Ich des Schauspielers, die zu bekämpfende Illusion, das Drama – das konventionelle Theater, das Sebastian Hartmann nicht liefern mochte. Er ist bewiesenermaßen empfindlich gegenüber Kritik. Er hat schon mehrere Arbeiten vorgelegt, in denen er auf seine persönliche Situation als Intentant in Leipzig reagiert.

Regisseur Manuel Harder also warnt in einer seiner enthusiastisch elliptischen Ansprachen an das Ensemble, in der er das Theater seit den Exerzitien der Urzeit herleitet, dieses sei nun daran, in die „autistische Kammer“ (wo zeigt er in diesem Moment hin?) oder ins „Museum“ zu geraten. Es muss gerettet werden.

Ist es eine Hommage oder ein Beleg des Theater-Museums, wenn sich Artemis Chalkidou bald danach von ihrer ohnehin überflüssigen Rolle bis dahin befreit und zur Antigone wird? Jetzt ist sie nur noch die, die ROLLE: Im zum Bühnenrand offenen U-Licht-Raum steht sie und klagt, jammert, wimmert, klagt an, fordert. Sie steht nur da und spricht die Verteidigung, die ein Umsturz ist. Vermutlich neugriechisch, deutsch übersetzt, ist das allein durch Stimme und Gestus der Schauspielerin, herausgerissen aus aller emotionalen Motivation des Urstückes, ein Energiemoment.

Nach der Pause geraten die Rollen völlig durcheinander. Waren bei den Proben auf wunderliche Weise Matthias Hummitzsch zwei Brüste gewachsen, agieren jetzt Olivia und Viola in einer Person (Sarah Franke), und als Dritter gerät, wie bei Shakespeare, Cesario hinein. Manolo Bertling ist dieser wie auch sein Gegner Malvolio. Rollen?, ach was.

Freilich ist das mehr als Klamauk. Der Regisseur und der Narr, momenthaft als eine vierarmige Figur, springen mit einem Spiegel dahinter herum und haben zwar viele Ratschläge, aber doch keine Klärung, wie jetzt eigentlich die Rolle der Person, die Person neben der Rolle, wie der Auftritt gewünscht sei. Ein weiteres Moment, dessen implizite Selbstkritik überrascht.

Dann mischt sich Heike Stumpf (wunderbar willensstark-willig Birgit Unterweger) mit ihrem aufgeschobenen Vorsprechen ein. Sie will, sie muss an dieses Theater. Sie mischt Ophelia in das Shakespeare-Duo, oder Trio. Der Regisseur Manuel spürt irgend etwas, wird begeistert, gerät handelnd in die Szene und ins eigene Begehren und nach einem Exkurs hinter der Bühne ist Heike Stumpf engagiert. Sie tritt noch einmal auf: nun ohne den Kostüm- und Rollenquatsch, mit dem sie sich bewarb.

Bleiben wir beim Theateraspekt, so ist dort also genüsslich das Zerfließen der scheinbaren Identitäten der Rollen vorgezeigt – offensichtlich aber im Chaos, in Konfusion. Sebastian Hartmann ist nicht müde, gegen die Illusion, die Larven der Rollen, gegen die angebliche Täuschung des Zuschauers, für den emanzipierten und präsenten Schauspieler vorzugehen. Was hat er nicht alles schon getan, um zart entstehende Illusionsmomente zu torpedieren? Hier hat er den Regisseur Manuel, der dazwischenhaut. Aber indem die Methode auf die Bühne kommt und keinen Sinn produziert, führt sie sich ad absurdum. Warum zeigt Hartmann das? Unbedingte Ehrlichkeit?

Er ist bei „Was ihr wollt“ außerdem an einen Spiegel geraten, der ihm die Wahrheit zeigt. Denn bei Shakespeare, ganz klassisches Odalisken-Theater, ist das Wissen um die Durchsichtigkeit jeder Rolle längst enthalten. Der Witz von Theater ist doch gerade das Wissen um die Scheinhaftigkeit. Theater ist keine Truman-Show. Nur Kinder lassen sich ganz und gar verstricken, sie beweisen gottlob, dass diese Verführung nie aufhören kann.

Bei Shakespeare wird im Stück Theater gespielt, allerdings Realverstellung, Intrigen. Dort schafft es Viola, als Mann verkleidet, dass sich sowohl Olivia in sie verliebt als auch Orsino, der ganz und gar heterosexuelle Herzog. Muss dort nicht also alles hindurchscheinen durch die ROLLEN, die sie spielen, und zwar sogar in die Rollen hinein und wieder zurück?

Denn einmal verliebt man sich in die ROLLE (Olivia in Cesario/Viola) und das REALE Duplikat (Violas Bruder) gleichzeitig. Olivia hatte sich in Viola – verkleidet als Cesario – verliebt, und als plötzlich deren Bruder Sebastian (heißt der wirklich so?) auftaucht, nimmt sie den REALEN FÜR DIE ROLLE und heiratet ihn spornstreichs. Olivia nimmt das eine für das andere. Einfach so. Das andere mal verliebt sich Orsini in die PERSON hinter der Rolle (Cesario/Viola). Viola wiederum, eine Theatermetapher, steigt in die Verkleidung, die ROLLE, UM REAL sowohl die eine wie den anderen zu umgarnen. Kurz: Kurz Shakespeare organisiert eine Hundertprozentige Rollentransparenz! Emanzipierte Darsteller!

Ist Shakespeare gar ein postdramatischer Autor? Selbstverständlich, denn Shakespeare ist alles.

Mit mehreren Modulen könnte man die Inszenierung also interpretieren, dass sie das Theorem von den unbrauchbaren Figuren und Rollen kritisch erörtere: Rede des Regisseurs Manuel, seine Ohnmacht, das Entscheidende zu erklären, Stärke der Antigone, Chaos der Rollenkonfusion, schließlich der – von mir strapazierte – Shakespeare.

Das wäre keine Schande für Hartmann, ganz und gar nicht. Die Metapher ist bekanntlich klüger als der Autor.

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