Lektion in Geschichte

Heute abend, in Leipzig werden die Nazis erwartet, zunächst mit Witz, schon hängt ein schönes Plakat am Völkerschlachtdenkmal, wird in Weimar mit dem Konzert zum „Gedächtnis Buchenwald“ das Kunstfest eröffnet. Stéphan Hessel, der Buchenwald überlebte, wird sprechen. Das Konzert wird auf Bitten jüdischer Mitwirkender, wie es heißt, vorzeitig beginnen, so dass es mit Sonnenuntergang, dem Beginn des Schabbat, beendet ist. Geht das nicht etwas weit, fragte ich mich spontan. Formal ähnelt es dem süddeutschen Sonntagvormittag, wo bisweilen ein Sakrileg ist, zur Zeit des Gottesdienstes anderes zu veranstalten. Leben wir nun in einem säkularen Primat oder in einem Kirchenstaat?

Aber man darf sich belehren. Es spielt, keine alltägliche Konstellation, das Young Philharmonic Orchestra Jerusalem Weimar, zusammengesetzt aus den Musikakademien der Städte. Das Konzert ist mit düsteren Werken von Johannes Brahms und Karl Amadeus Hartmann recht schwer konzipiert. Besonders aber muss die Orchesterfassung der Klaviersonate Nr. 7 von Viktor Ullmann  interessieren. Ullmann, geboren 1898, war Schüler von Zemlinsky und Schönberg in Wien, wirkte in Prag und Zürich und führte auch mal eine anthroposophische Buchhandlung in Stuttgart. Er wurde 1942 nach Theresienstadt deportiert und 1944 in Auschwitz ermordet.

Die Klaviersonate Nr. 7 schrieb er in Theresienstadt. Ullmann war sehr aktiv dort, organisierte mit anderen ein aktives Musikleben, und er hat dort ungewöhnlich viel komponiert, das erst sehr viel später erklungen ist. Es gibt Randnotizen, mit denen Viktor Ullmann begonnen hatte, die Orchestrierung festzulegen. Michael Wolpe, der Jerusalemer Komponist und Musiktheoretiker, der die Orchesterfassung letztendlich notiert hat, kennt die vorbereitenden Notizen. Nur nebenbei sei erwähnt, dass Wolpe der Enkel von Felix Nußbaum ist, dem Maler, der ebenfalls 1944 in Auschwitz-Birkenau umgebracht wurde.

Wolpes Erläuterungen zufolge kombiniert Ullmann in diesem, einem seiner letzten Werke, drei Motive. Das erste ist ein quasi schon israelisch-zionistisches Motiv vom Komponisten Yehuda Sharet auf einen Vers von Rachel Blobstein (1890-1931). In dem Text stellt sich ein Ich in die Tradition der biblischen Rahel. Diese grandiose, auch gendertheoretisch sehr interessante Geschichte um Jakob, die Liebe, den Stamm und das Gebären, sichert gleichsam die Genealogie Israels. (Böse hat Margaret Atwood das alttestamentarische Gebären der Dienerin in ihre Anti-Utopie „Report der Magdt“ aufgenommen.)

Das zweite und dritte Motiv, so Michael Wolpe, sind tschechisch und deutsch. Das tschechische stammt aus dem älteren „Hussiten-Choral“ und ging in eine Hymne des Widerstandes gegen die Deutschen ein. Das deutsche sei von Bach, aus „Eine feste Burg…“, auch B-A-C-H käme vor. Der historische Atem und der kulturelle Horizont dieses Stückes reichen also sehr weit; wenn man bedenkt, unter welchen Umständen es geschrieben wurde, muss man es ungeheuerlich nennen. Wolpe ist sich sicher, dass Viktor Ullmann das Stück mit seinem Orchester in Theresienstadt aufführen wollte, wenn er aus Auschwitz zurück wäre.

Bei einer Voraufführung konnte man gestern die jungen Leute aus Jerusalem und Weimar, das Young Philharmonic Orchestra schon sehen und hören. Wer einigermaßen Phantasie und historischen Sinn hat, dem werden mögliche Bilder eines andern Orchesters dabei einfallen; ich war dabei sehr einverstanden, hier und jetzt zu Hause zu sein.

Vielleicht wollen die jungen Leute von all den alten Geschichten gar nichts mehr wissen, egal ob Israelis oder Deutsche, und die Juden wollen einfach den Schabbat einhalten. Die Gewohnheiten des deutschen Publikums dem unterzuordnen, ist jedenfalls ein sehr Geringes.

Zusatz 29.8.: Siehe genauer und in vielen Details grundsätzlich anders bei Ingo Schultz in seiner Biographie: Viktor Ullmann – Leben und Werk, Bärenreiter, Metzler 2008

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