Morgen seid ihr alle tot – ein rhetorischer Unfall in Weimar

Jorge Semrun (1923-2011) ist gestorben und wurde bei artour sogar mit einem kleinen Beitrag bedacht, 2 min. (Ein längerer, schön persönlich gehaltener Beitrag bei aspekte noch in der ZDF Mediathek.)

Zur Vorbereitung des artour-Stückes sah ich eine Aufzeichnung der Feier zum 60. Jahrestag der Befreiung des KZ Buchenwald, 2005 in Weimar. Sempruns Rede, deutsch vorgetragen, hielt sich etliche Minuten in der eleganten Redundanz französicher Rhetorik bei dem Gedanken auf, dass in zehn Jahren, 2015, niemand mehr werde Zeugnis ablegen können von Buchenwald, von den Lagern, in denen politische Gefangene eingesperrt gewesen waren. Alle diese Erfahrungen würde dann zu Geschichte geronnen sein, weil alle gestorben sein werden, die sie gemacht haben.

Er wiederholte und wiederholte diesen Gedanken, das zu erwartende Sterben, variierte und deklinierte verschiedene Häftlingsarten durch, das Ergebnis ist dasselbe: 2015 werden wir alle tot sein. Im Nationaltheater saßen einige Dutzend Überlebende diverser Nazilager, die sich zur Feier des Jubiläums nun also ihren Tod ansagen lassen mussten, und einige davon murrten, Unruhe entstand.

Ein französischer Jude, in der Übertragung nicht zu erkennen, aber eben auch jenseits der 80, schreibt Franziska Augstein in ihrer Biographie Sempruns, sprang auf, um lautstark zu protestieren. Eine irritierende Situation, ungewöhnlich bei so einer Feierstunde. Zweimal bat Semprun um Ruhe, um dann mit gesenktem Blick, schnell und missmutig zu Ende zu lesen, was das Ziel seiner Einlassung war: Die jüdische Erinnerung würde länger leben können, denn unter den jüdischen Opfern seien viele Kinder gewesen. Die jüdische Erinnerung habe also eine große Verantwortung für die Erinnerung aller, an die Erinnerung an die Lager aller Verfolgter. Augstein schreibt, Semprun sei zornig gewesen wegen der Kritik, er verteidigte seine Rede, er „verstand nicht, was daran anstößig sein konnte“.

Zweifellos hat Semprun sich lange mit dem Tod auseinandersetzen müssen, zweifellos ist bedenkenswert, was Franziska Augstein über die besondere spanische Aufmerksamkeit für den Tod schreibt. Er war acht Jahre alt, als seine Mutter starb und umgehend durch eine gemeine Stiefmutter ersetzt wurde. Sollte das keine Spuren hinterlassen? Es drängt sich viel aus späteren Lebensjahren davor: die Gefahr in der Resistance, im KZ, im Untergrund gegen Franco. Der Tod war immer nah. Primo Levis Todesdatum hat für ihn, auch das erwähnt die Biographie von Franziska Augstein, in einem heiklen Lebensmoment etwas bedeutet, er kalkulierte seine eigene Zeit. 2002 schrieb Semprun in einer Rezension, dass nun die Zeugen der Lager sterben dürfen, da die nachwachsende Literatur sich des Themas angenommen habe.

Das Thema der Weimarer Rede hatte Semprun also länger und intensiv beschäftigt, für diese Gedanken hatte er sich schon selbst aus der Rechnung genommen. Semprun war seinem Publikum damit ein paaar Schritte voraus.

Freilich drängte sich beim Anhören der Rede in der Aufzeichnung auch der Verdacht auf, der Unmut wäre ein Missverständnis gewesen: Denn die Übergabe gewissermaßen des Staffelstabes an die jüdische Erinnerung, wenn auch mit der erwähnten schlichten Begründung, hätten die Zuhörer dem Redner gewiss abgenommen – mit Vorbehalten, weil der Holocaust mit nichts zu vergleichen sei, zumal das „Erinnern“ im Judentum ohnehin eine größere Rolle spielt. Doch nahm seine Rede die Wendung vom Ende der Erinnerung durch baldigen Tod bis zur Übergabe der Erinnerungsverantwortung an die jüdischen Überlebenden erst nach dem Protest. Bis dahin hatte Semprun den Zuhörern vor allem ihren eigenen Tod vor Augen geführt, und wiederholt, und variiert – er hat rhetorisch überreizt, mehr ist wohl nicht passiert.

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