Der Existenz-Experimentator

DER EXISTENZ-EXPERIMENTATOR

Eine große Ausstellung in Chemnitz stellt Carlfriedrich Claus in den Kontext von Schrift, Zeichen, Geste in der Kunst

Da sitzt also ein schmächtiger Mann in seiner Wohnung unter dem Annaberger Kino. Bücher, Staub, Teetasse. In langen Arbeitsnächten lauscht er seinem Kopf, seinem Puls, seinen Gedanken nach, lauscht in sein ganzes Ahnen und Fühlen hinein und versucht das, was er dort wahrnimmt, in kleinen Blättern zu notieren. Er beginnt mit Zeichen oder einer Geste oder mit Worten und wandert von einer Sprache in die andere. Er versucht vor die Worte zu kommen, Ahnungen zu beschreiben, bevor sie die Festigkeit von Worten haben. Auf diese Weise durchdenkt, durchfühlt er komplexe Weltprobleme. Mitte der 60er Jahre ist er in der europäischen Gemeinde der Konkreten Poesie schon ein Großer und führt ausgiebige Korrespondenzen, da halten ihn die einheimischen Behörden schlicht für einen Spinner. Er bezeichnet sich als Kommunisten, doch die Macht bewacht ihn. Monatelang kommt keine Post an. Er arbeitet unbeirrbar an einem Weltbild, das noch immer nur in den Hauptlinien erkennbar ist. Es beschränkt sich nicht auf das rationalen Denken. Es versucht Paracelsus mit Ernst Bloch zu verbinden, doch wohl nicht in systematischer Strenge, sondern in Versuchen. Er liebt das Wort „starting-point“. Er trainiert „nichtkontemplative Meditation“, eine Geistesgegenwart, geschult an Kabbala und Magie, Lamaismus und Karate. Als Credo darf man den Satz verstehen: „Ich fasse mich auch nicht als ‚Künstler’ auf, eher als Existenz-Experimentator, als black-box, mit verschiedenen Ein- und Ausgängen, als Experiment aus Experimenten, Frage-Information – : eben: vorversuchende, experimentelle Existenz in experimenteller Arbeit.“ Claus hatte viele Verehrer und Freunde, Dichter wie Erich Arendt, Christa und Gerhard Wolf. Zu den Kunstwissenschaftlern, die mithalfen, dass er seit den 80er Jahren zunehmend akzeptiert wurde, gehören die beiden Leipziger Henry Schumann und Klaus Werner.

Der Ausstellung  „Schrift. Zeichen. Geste. Carlfriedrich Claus im Kontext von Klee bis Pollock“ haftet das für den Annaberger Experimentator (1930-1998) typische Paradox an. Sie vereint Kunst diverser Strömungen, die gestisch, informell, mit Schriften hantieren, um die Umgebung eines Mannes zu illustrieren, der sich nicht als Künstler verstand, schon gar nicht als bildender Künstler.

Sinn macht das trotzdem. Offensichtlich ist er, wo biographische Verbindungen exstieren. Mit den Malern Fritz Winter und Bernard Schulze, mit dem Dadaisten Raoul Hausmann, mit den „Konkreten“ Eugen Gomringer und Franz Mon sowie mit mehreren Fluxus-Künstlern stand Claus in Verbindung. Freilich ergeben sich auch in den Arbeiten etliche Berührungspunkte. Handschriften werden Figur, abstraktes Zeichen wird Bild und umgekehrt. Paul Klees Figurinen leben von der Poesie jenseits des stilisierten Bildes – im Krakel also vor dem fixierten Bild-Begriff. Cy Twombly suchte Bilder zu schreiben. Die Fluxus-Künstler hielten sich schon per Begriff an das „Fließende“ zwischen allen Sprachen der Kunst oder Nichtkunst. Der illustre Reigen der 110 Künstler aus 22 Ländern reicht von John Cage über Gerhard Hoehme, El Lissitzky, Max Ernst bis Jackson Pollock, Mark Tobey, Wols und Ben Vautier.

Von Carlfriedrich Claus sind 125 Blätter zu sehen. Darunter sind etliche noch nicht gezeigte frühe Zeichnungen, Blätter von allen seinen Lebensthemen, große Mappenwerke wie das „Geschichtsphilosophische Kombinat“. Tatsächlich stellt sich auch in der Wiederbegegnung mit den vollgeritzelten Blättern der Eindruck ungeheurer Dichte ein, von Energieballungen und partiellem Verrauschen. Zu entziffern ist kaum etwas. Kurioserweise hat Claus selbst Wert darauf gelegt, dass die Blätter groß reproduziert werden, er hat auf ihre Lesbarkeit gesetzt. Das ist das Paradox: wahrnehmen kann man die Werke von Carlfriedrich Claus ausschließlich als Kunst. Ist es vielleicht auch eine Tragik? Vielleicht ist die Kunst letztendlich doch seine Bestimmung? Darf man den wissenschaftlichen Hintergrund beispielsweise eines Blattes wie „Werden neuer Sinnesorgane im Noch-Nicht-Gewordenen des Körpers; Bewusstwerden noch nicht bewusster Fähigkeiten“ lediglich als Vorarbeit des (dann doch) Künstlers abhaken?

Den Denker Carlfriedrich Claus verstehen können – das ist noch verschoben. Die Voraussetzungen sind gut, denn Chemnitz konnte den Nachlass übernehmen. Neben je 600 Grafiken und Schriftblättern gehören dazu viele Tondokumente, 22 000 Briefe, die Bibliothek mit allein 300 Lexika und Wörterbüchern in 43 Sprachen und zwei Dutzend Bände Tagebücher. Es wird sicher noch einige Jahre dauern, ehe der Denkhorizont des Carlfriedrich Claus abzuschreiten ist. Die Lust dazu verschaffen seine rätselhaften Blätter immer aufs Neue. (2005)

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